Matthias Drescher, Die Zukunft unserer Moral.
Wie die Nächstenliebe entstanden ist und wieso sie den Glauben überlebt. Baden-Baden, Tectum-Verlag, 2019, 108 S., ISBN 978-3-8288-4275-5. € 9,95
Wie überleben Moral und Ethik in Zeiten gewaltiger Umbrüche, die die bestehende Ordnung umwerfen, traditionelle soziale Identitäten auflösen und Gesellschaften fragmentarisieren? Was ist das Fundament, wie sehr hängt Moral von Religion und religiösen Verankerungen ab? „Die Zukunft unserer Moral“ ist ein steiler Titel. Matthias Drescher nimmt die Hürde mit Bravour. Seine These: Der Kern westlicher Moral, die Nächstenliebe, diese einzigartige jüdische Kulturleistung der Antike, bleibt erhalten, wenn der Glaube stirbt, weil die eigentliche Quelle, aus der sie sich speist, weniger aus Geboten erwächst als dem existentiellen Selbstverständnis der Individuen.
Ursächlich dafür, so Drescher, ist die Furcht vor dem Tod. Das mag obenhin absurd klingen. Schließlich fußt Moral seit Jahrtausenden auf dem Androhen himmlischer Strafen, selbst wenn Lukrez die schon 50 Jahre vor unserer Zeitrechnung als Propagandalüge von Priestern bezeichnete. Tatsächlich jedoch funktioniert es dialektisch, geboren aus Einsicht, dass die positive Todesüberwindung einzig in Liebe für andere und Hingabe an sie besteht. Folglich kann das Prinzip zerfallende Jenseitshoffnungen überdauern. Diese erfreuliche Botschaft untermauert Drescher mit einem so klugen wie kenntnisreichen Ausflug in jüdische und griechische Geschichte. Er skizziert den Übergang archa ischer Gesellschaften in hellenistische Strukturen. Lebte der Einzelne vormals eingebettet in feste soziale Zusammenhänge, die ihm Halt und transzendentale Orientierung gaben, entstanden im Hellenismus und der Römerzeit modernere Gesellschaften, die der unseren weit mehr ähnelten. Darin mussten Individuen ohne den Schutz der Gemeinschaft klarkommen und standen vor ähnlichen existentiellen Fragen wie wir heute.
Das wiederum erklärt den Reiz jüdischer Religion für Konvertiten und den späteren Siegeszug christlicher Lehren. Drescher erhellt die Gefühlslage in den hellenistischen Mittelmeerstädten, wo das Christentum rasch großen Anklang fand. Im klassischen Griechenland lebte das einfache Volk abgeschirmt durch Mythologie. Der Hellenismus ließ diesen Schutz kollabieren. Migration und Entwurzelung pflügten lokale Mythen unter. In der Anonymität großer Städte wie Alexandria, das man sich ähnlich bunt vorstellen darf wie New York, nahmen Einzelne ihr Ich stärker wahr und entwickelten existentielle Ängste, die ihr Vertrauen in die alten Götter aushebelten. Auch ihr Blick auf andere änderte sich: Wo alle fremd sind, werden Barbaren zu Mitmenschen. So entstand eine universelle Form von Empathie. Rücksichtslosigkeit und Härte der Metropolen gebaren auch Rücksicht und Anteilnahme. Menschen wurden sensibler. Das schuf die Grundlage für eine andere Art Moral. Begründet wurde die jedoch erst im Judentum. Die Thora gebot Nächstenliebe. Bisher beschränkte sich das Gebot auf Juden. Nun wurde es zum allgemeinen ethischen Imperativ. Es setzte Empathie in die Tat um. Wer anderen Trost spendete, verhielt sich gottgefällig.
So wurde das Konzept zu einem zentralen Element modernen jüdischen Glaubens, was diesen wiederum für viele attraktiv machte – besonders für die kulturell und sprachlich den Juden nahestehenden Phönizier, die durch das aufstrebende römische Reich entwurzelt waren. Es bewegte Abertausende zur Konversion. Das Christentum wiederum war noch eingängiger. Es forderte nur Glauben und Liebe und versprach obendrein ewiges Leben, womit es eigentlich das aus der Erkenntnis der eigenen Endlichkeit geborene Prinzip von Nächstenliebe unterminierte, das aber ausglich, indem es diese zum Gebot erhob und zum Kern seiner Lehre erklärte. So stellte es die formative Errungenschaft des Altertums auf eine neue Basis und trug sie bis in die Gegenwart. Für die These des Autors, dass die Idee der Nächstenliebe sich derart mit unserer Kultur verwoben hat, dass sie auch ohne Hoffnung auf Erlösung im Jenseits fortbesteht, spricht einiges. Dabei argumentiert Drescher nicht nur stringent, schlüssig und fundiert, er schreibt auf angenehme Weise unprätentiös und gut lesbar. Es mag einige strittige Punkte geben, etwa seine Epikur-Kritik, aber schließlich handelt es sich um einen Essay. Da darf man sich aufs Wesentliche beschränken.
Selbst wenn man Dreschers Optimismus hinsichtlich einer säkularen Zukunft nicht teilt, sondern eher das Erstarken quasireligiöser Irrationalität und totalitären Denkens befürchtet, bietet der Text viele kluge An- und Einsichten, zieht bedenkenswerte Parallelen und gibt zeitlose Impulse. ●
Christoph Ernst (ce) ist Schriftsteller und Historiker.
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