Volkswirtschaft

Die Zukunft des Kapitalismus

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2020

Wie steht es um die Zukunft des Kapitalismus? Zwei Bücher, beide von Ökonomen, widmen sich dieser Frage, allerdings mit sehr verschiedenen Blickrichtungen. Paul Collier verfolgt einen normativen Ansatz und fragt, wie der Kapitalismus zukünftig beschaffen sein sollte. Carl Christian von Weizsäcker und sein Koautor Hagen Krämer verfolgen hingegen einen positiven Ansatz und fragen, wie der Kapitalismus zukünftig aussehen wird.

Collier strebt einen Sozialen Kapitalismus an, sozial in dem Sinne, dass der in dieser Ordnung agierende Mensch als ein soziales Wesen verstanden wird, das in Gruppen von Familie, Stadt, Region und Land agiert, dort Leistungen erbringt und Unterstützung erhält, Anerkennung und Sanktion erfährt, Identität bildet: Ein Homo socialis, kein Homo oeconomicus.

Von Weizsäcker/Krämer hingegen sehen durch die Alterung der Gesellschaften eine Transformation des Kapitalismus voraus, in der hohes Vorsorgesparen der Haushalte für das Alter und geringe investive Verschuldungsbereitschaft der Unternehmen den Staat zwingt, kompensatorisch eine Politik der wachsenden Staatsverschuldung zu betreiben. Niedrige oder negative Zinsen, ein Ende der Kapitalknappheit und der Segen einer hohen Staatsverschuldung sind dann die Merkmale des neuen Kapitalismus.

Paul Collier, Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft, Siedler Verlag München 2019, 317 S., Hardcover m. SU, ISBN 9783-8275-0121-9, € 20,00. (Originaltitel: The Future of Capitalism. Facing the New Anxieties, Allen Lane London 2018)

Paul Collier,71, ist ein hochdekorierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Oxford. Sein Forschungsschwerpunkt sind Entwicklungsländer, speziell in Afrika. Viele seiner Bücher haben renommierte Preise gewonnen, so „Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann“ (2008), „Exodus: Wie die Migration unsere Welt verändert“ (2013) oder die hier zu besprechende Arbeit, die mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2019 gewürdigt wurde. Collier nimmt im vorliegenden Buch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der westlichen Welt in der Nachkriegszeit kritisch in den Blick. Die Besonderheit seines Werkes liegt darin, dass er ethischen und sozialwissenschaftlichen Überlegungen breiten Raum gibt und insofern über eine rein ökonomische Betrachtung weit hinaus geht. Er sah es, wie er in der abschließenden Danksagung an die seine Arbeit unterstützenden Kollegen schreibt, „als notwendig an, eine Synthese aus Moralphilosophie, politischer Ökonomie, Finanzökonomik, Wirtschaftsgeographie, Sozialpsychologie und Sozialpolitik vorzulegen“. Daraus erkennt man schon, dass er unter „Sozialem Kapitalismus“ weitaus Umfassenderes versteht als einen Kapitalismus mit sozialstaatlichem Reparaturbetrieb.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein deutlich erkennbarer Strukturbruch im Verlauf der Nachkriegszeit: War ihre erste Phase, 1945–1980, durch ein hohes Maß an gesellschaftlichem Zusammenhalt, vergleichsweise geringer ökonomischer Ungleichheit, und wachsender Zuversicht gekennzeichnet, so löste sich der gesellschaftliche Konsens in der zweiten Phase 1980–2020 zunächst mehr und mehr auf und wich sodann einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung mit wachsender Ungleichheit und zunehmenden Ängsten vor sozialem Abstieg. Die frühe Phase war geprägt durch die eine gesellschaftliche Solidarität stiftende Kriegserfahrung, während später diese Erfahrungen verblassten und egoistischeren, soziale Differenzierung bewirkende, ja zur Schau stellende, Verhaltensweisen Platz machten. Politisch waren die frühen Jahrzehnte die Blütezeit der Sozialen Demokratie, deren Denken Collier vornehmlich in den sozialdemokratischen, aber auch in den linken Teilen der konservativen und liberalen Parteien zuhause sieht. Diesen den gesellschaftlichen und nationalen Zusammenhalt fördernden Parteien der Mitte erwuchs jedoch im Laufe der Zeit mit ideologisch und/oder populistisch geprägten Parteien am linken und rechten Rand starke Konkurrenz, die eine gesellschaftliche Polarisierung sichtbar machte.

Die Ursachen dieser Polarisierung sieht Collier in ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren. In ökonomischer Hinsicht ist es der vom Technischen Fortschritt und der Globalisierung angetriebene strukturelle Wandel. Er ermöglicht neue und entwertet alte Produkte, Produktionsverfahren, Standorte und Arbeitsqualifikationen. Die von der Entwertung Betroffenen verlieren ihre Arbeit oder müssen Lohneinbußen in Kauf nehmen. Gleichzeitig sehen sie, dass Andere wirtschaftlich und örtlich „davonziehen“. Im Ergebnis führen diese Prozesse zu einer regionalen und sozialen Spaltung der Gesellschaft mit boomenden/verelendenden Städten und Regionen und immer reicher/ärmer werdenden Familien.

Die Politik setzt dieser Entwicklung wenig entgegen. Just in der Zeit, in der die Verlierer des Strukturwandels die sozialen Sicherungssysteme benötigen, lässt sie zu, dass an den Sozialsystemen gespart wird, aber gleichzeitig Banken mit gigantischen Summen gerettet werden. In der Parteipolitik entfremdet sich die sozialdemokratische Avantgarde der Arbeiterschaft, indem sie deren traditionellen Werte wie genossenschaftliche, wechselseitige Unterstützung, National- und Heimatverbundenheit, Zugehörigkeit und Pflichterfüllung nicht mehr ernst nimmt und sich stattdessen zum Anwalt von Minderheiten und Benachteiligten, tatsächlichen und gefühlten, aller Art macht. Die Verlierer des Strukturwandels verlieren so ihre politische Heimat und wenden sich den Ideologen am rechten und linken Rand zu. Die Gewinner des Strukturwandels geben sich als aufgeklärte Weltbürger in selbstverdientem Wohlstand und verorten „den Rest der Gesellschaft“ in dumpfem Nationalismus/hinterwäldlerischem Provinzialismus und selbstverschuldetem wirtschaftlichen Abgehängtsein.

Es handelt sich um ein beeindruckendes Buch, das ökonomische Analyse, soziale Empathie und politischen Realismus in bewundernswerter Weise verbindet. Es kann jedem nur dringend zur Lektüre empfohlen werden.

Collier belässt es nicht bei dieser Diagnose. Er ist überzeugt, dass die wachsende Spaltung der Gesellschaft überwunden werden kann und muss. In einem Manifest fasst er zusammen, wie dies gelingen kann: Als Ökonom weiß er, dass Kapitalismus und Markt unverzichtbar bleiben, aber staatlicher Kontrolle bedürfen. Ökonomische Ungleichheit

hält er per se nicht für verwerflich, verlangt aber, soweit sie auf ökonomischen Renten, nicht auf Leistungen, beruht, eine scharfe Besteuerung, etwa der Wertsteigerung von Immobilien in boomenden Metropolen. Die Gesellschaftspolitik sollte im Interesse der Kinder und ihrer Chancengleichheit die Familienförderung in den Mittelpunkt ihrer Anstrengungen rücken. Sie muss Identitätsbildungen zulassen, um Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen zu lassen. Im Patriotismus sieht er eine solche Möglichkeit. Er beginnt für Collier mit der örtlichen Gemeinschaft, geht über die regionale und nationale bis hin zur multinationalen Gemeinschaft wie etwa in der EU und wird im schönen Bild einer Zwiebel mit ihren vielen Häuten sinnbildlich erfasst. Die Spaltung könne zudem nicht mit wohlfeilen Konzepten der Ideologie und des Populismus überwunden werden, sondern nur mit einem auf festen moralischen Werten stehenden Pragmatismus: „Es geht um nichts Geringeres als die Zukunft eines ethischen, sozialen Kapitalismus: Willkommen in der mühsamen Ebene“ (S. 41).

Die Art und Weise, in der Collier seine Ideen präsentiert und seine Leser mitnimmt, ist großartig. Erfrischend unorthodox fallen seine Analysen und Empfehlungen aus: Obwohl er selbst der Sozialdemokratie nahesteht, schert er sich nicht um ihre Tabus. So lobt er den Kapitalismus, vertritt einen aufgeklärten Patriotismus, benennt die Risiken der Zuwanderung für die soziale Kohärenz und fordert eine an konventionellen Familienstrukturen orientierte Familienförderung mit Vorrang von Kindeswohl vor elterlicher Selbstverwirklichung. Er grenzt die verschiedenen ökonomischen, politischen und philosophischen Denkrichtungen, Sozialisten, Sozialdemokraten, Konservative, Liberale, Nationalisten, Utilitaristen, Rawlsianer in Knappheit und Klarheit voneinander ab und bietet so Orientierung. Er formuliert glänzend, oft in lakonischer Kürze. Mit der Einbeziehung eigener familiärer Erfahrungen – er wächst in einer armen Familie mit geringer Bildung im notleidenden Sheffield auf und verbringt später einen großen Teil seines Lebens in den ärmsten Ländern der Welt – verleiht er seinen Argumenten in hohem Maße Gewicht und Glaubwürdigkeit.

Mehr als ein Drittel des Buches widmet Collier der Frage, welchen ethischen Anforderungen die Akteure im ethischen, sozialen Kapitalismus entsprechen sollten. Der Betrachtung der Akteure voran stellt er eine Kritik am Eigennutz, „dem egoistischen Gen“, personifiziert in der Kunstfigur des „Homo oeconomicus“. Diesem Konstrukt stellt er den „Homo socialis“, das evolutionstheoretisch überlegene Menschenbild, entgegen. Danach ist der Mensch ein soziales Wesen, das in eine Gruppe, die Familie, hineingeboren wird, sich in der Gruppe entfaltet und lernt, wie es mit reziprokem Handeln, mit Geben und Nehmen, Respekt und Ansehen in der Gruppe gewinnt. Er ist genau so wenig ein egoistischer Unhold wie ein altruistischer Heiliger.

Vor diesem Hintergrund entwickelt Collier seine ethischen Anforderungen an Unternehmen, Staat und Familien. Ein ethisches Unternehmen verfolge nicht ausschließlich das Ziel der Gewinnmaximierung, sondern komme auch seinen ethischen Verpflichtungen gegenüber Mitarbeitern, Kunden, Konkurrenten und staatlichen Institutionen, wie Finanz- und Aufsichtsbehörden, nach. Ein ethischer Staat biete seinen Bürgern umfassende Bildung und ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Er gebe allen die Chance, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlfahrt leisten zu können, was jedem Einzelnen Selbstwertgefühl gibt und Allen zusammen ein Wir-Gefühl vermittelt. In der ethischen Familie sieht Collier das tragende Fundament im ethischen, sozialen Kapitalismus. Den Kindern würden entweder dort oder gar nicht die Werte vermittelt, auf die es im Leben ankommt: Geborgenheit, Anstrengung, Belohnung, Empathie, Sanktionierung, Rücksichtnahme, kurz: Solidarverhalten. Umso mehr bestürzt ihn der Zerfall der Familien, insbesondere in der unteren Hälfte der Bildungshierarchie, mit der Folge von sich von Generation zu Generation verfestigender Chancen- und Einkommensungleichheit.

Wie bei vielen Büchern kapitalismuskritischer Art fällt auch hier die Diagnose überzeugender aus als die Therapie. So wünschenswert und notwendig ein stärkeres gesellschaftliches Miteinander ist, so schwer ist es, ein solches, außer in Kriegs- oder Krisenzeiten, die niemand wollen kann, herbeizuführen. Insofern könnten die geschilderten Verhältnisse in der ersten Hälfte der Nachkriegszeit eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein. Einem deutschen Leser fällt gelegentlich auf, dass Collier doch sehr stark die sozialen Verhältnisse in Großbritannien vor Augen hat. So ist die Deindustrialisierung in der Mitte Englands politisch weit weniger gut abgefedert worden als etwa im Ruhrgebiet. Auch haben die föderale Struktur und der großzügige horizontale Finanzausgleich in Deutschland verhindert, dass eine erdrückende regionale Dominanz, wie sie der Raum London für Großbritannien ausübt, in Deutschland entstehen konnte. Ferner: Wenn der Zerfall der sozialen Kohärenz eine so dominierende Rolle spielt wie Collier sagt, müsste der politische Liberalismus ein Gewinner in der Wählergunst geworden sein. Davon ist weit und breit nichts zu sehen. Auch der – zumindest in Deutschland – unverändert hohe Anteil des Sozialbudgets am BSP steht den Collier‘schen Thesen entgegen. Dessen ungeachtet: Es handelt sich um ein beeindruckendes Buch, das ökonomische Analyse, soziale Empathie und politischen Realismus in bewundernswerter Weise verbindet. Es kann jedem nur dringend zur Lektüre empfohlen werden.

 

Carl Christian von Weizsäcker/ Hagen Krämer, Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert. Die große Divergenz, Springer/Gabler, Wiesbaden 2019, 335 S., Hardcover, ISBN 978-3-658-27701-7, € 49,99.

Carl Christian von Weizsäcker, 82, ist der Doyen der deutschen Volkswirtschaftslehre: Mitbegründer der neoklassischen Wachstumstheorie, Kenner und Interpret der österreichischen und marxistischen Kapitaltheorie, Verfasser innovativer Beiträge in der Mikro- und Makroökonomie, Inhaber von Professuren in Heidelberg, MIT Boston, Bielefeld, Bonn, Bern und Köln. Hagen Krämer, 57, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Karlsruhe. Er forscht über Fragen der Einkommensverteilung sowie der ökonomischen Theoriegeschichte und ist Gründungsmitglied der Keynes-Gesellschaft.

„Sparen und Investieren…“ ist ein Buch über die Zukunft des Kapitalismus mit einer Fülle überraschender Thesen und der Aufforderung an die Leser, sich von überkommenem Denken zu lösen und den Realitäten des 21. Jahrhunderts ins Auge zu sehen.

Die beiden Realitäten, die die Autoren, vW/K im Folgenden, vor Augen haben und zum Thema ihres Buches machen, sind die Alterung der Bevölkerung und der Technische Fortschritt. Die Alterung bringt die Notwendigkeit mit sich, dass die Menschen während der Zeit ihrer Erwerbstätigkeit bedeutend mehr sparen müssen als in der Vergangenheit, um im Alter noch gut leben zu können. Der Technische Fortschritt wirkt mehr und mehr kapitalsparend, was zur Folge hat, dass die Investitionen in Sachkapital sinken. Es öffnet sich eine Schere: Die Investitionsnachfrage reicht nicht mehr aus, den vom Sparen ausgehenden Ausfall an Konsumnachfrage zu kompensieren. Es entsteht „Die große Divergenz“, ein Sparüberschuss, es wird mehr gespart als investiert. Anders ausgedrückt: Die Gesamtnachfrage reicht nicht aus, die Produktion abzunehmen. Es entsteht eine Nachfragelücke. In der Folge sinken Produktion und Beschäftigung. Sparüberschuss und Nachfragelücke sind nicht nur numerisch groß, sondern auch groß im Sinne von langandauernd. Während die traditionelle, keynesianische Theorie eine konjunkturelle Nachfragelücke d.h. ein im Konjunkturverlauf wieder verschwindendes Phänomen thematisierte, handelt es sich bei vW/K um eine säkulare Nachfragelücke, ein sehr lange anhaltendes Problem.

Dies ist ein bedeutendes Buch, wirtschaftstheoretisch, wirtschaftspolitisch und allgemein politisch. Die Lektüre wird für jeden, der an wirtschaftlichen Fragen interessiert ist, ein Gewinn sein. Es wird die wissenschaftliche Debatte, insbesondere auch nach der Übersetzung des Buches ins Englische, noch lange befeuern.

Dreh- und Angelpunkt der im Buch vorgetragenen Theorie ist die Verbindung von Sparüberschuss und einem Nominalzins, der nicht unter null sinken kann. Welche Implikationen hat die Kombination beider Annahmen? Der Sparüberschuss lässt am Kapitalmarkt den Realzins sinken. Der Kapitalmarkt ist der Markt, auf dem Eigen- und Fremdkapital, also vornehmlich Aktien und Anleihen, gehandelt werden. Sie werden von Sparern zur Vermögensanlage gekauft und von Investoren zur Finanzierung ihrer Projekte verkauft. Der Realzins ist der um die Inflationsrate bereinigte Nominalzins. In „normalen Zeiten“, Friedman-Zeiten nach vW/K, sinkt der Realzins soweit, bis Sparen und Investition bei einem Realzins von größer als null zum Ausgleich kommen und die Produktion Absatz findet. Was aber, wenn es zum Marktausgleich eines Realzinses von kleiner als null bedürfte, dieser aber nicht zustande kommen kann, weil der Nominalzins nicht kleiner als null werden kann und Preisstabilität herrscht? Dann verharrt der Realzins bei null, der Sparüberschuss besteht auf niedrigerem Niveau fort und mit ihm Nachfragemangel und Arbeitslosigkeit: Keynes-Zeiten nach vW/K. Die Autoren bieten zwei Optionen zur Lösung des Problems an. Erstens könnte durch Inflationierung auch bei einem Nominalzins von null der Realzins in den negativen Bereich gedrückt werden und so Investition und Sparen doch, Vollbeschäftigung sichernd, zum Ausgleich gebracht werden. Zweitens könnte der Staat mit einem Haushaltsdefizit den privaten Sparüberschuss kompensieren und auf diesem Weg die Vollbeschäftigung sichern. Staatsverschuldung ist daher, so die Logik der Autoren, eine Alternative zur Inflation. Auf den Punkt gebracht ist sie der Garant, nicht der Feind, der Preisstabilität! Aus der Sicht konservativer Ökonomen wird hier die Welt auf den Kopf gestellt! Anders gewendet: Die Sparer wollen, um für ihre längere Lebenserwartung vorzusorgen, mehr sparen. Zu diesem Zweck wollen sie Aktien und Anleihen kaufen. Das geht aber nur, wenn es Unternehmen gibt, die ihr Eigenkapital aufstocken oder sich verschulden wollen. Wenn es aber an deren Verschuldungsbereitschaft fehlt, sollte nach vW/K der Staat die gewünschten Schuldtitel bereitstellen. Nach den Berechnungen der Autoren setzt sich das private Vermögen der Deutschen derzeit zu 3/15 aus Grund und Boden, zu 5/15 aus Sachkapital und zu 7/15 aus Ansprüchen gegenüber der öffentlichen Hand zusammen. Das bedeutet, dass knapp die Hälfte des privaten Vermögens Forderungen gegen den Staat sind. Die Kehrseite dieser privaten Forderungen ist die Staatsverschuldung, in expliziter (Staatsanleihen) und impliziter (Rentenanwartschaften) Form. Wenn aber die private Ersparnis fast zur Hälfte in Staatsschuldtitel fließt und der derzeitige Realzins nahezu bei null liegt, könnte man fragen, wie hoch der Realzins wäre, wenn es keine öffentliche Verschuldung gäbe. vW/K schätzen, dass der markträumende Kapitalmarktzins unter diesen Bedingungen bei -2% liegen würde. Wenn aber der Preis für die Nutzung von Kapital, der Realzins, ohne Staatsverschuldung negativ, also kleiner als null wäre, kann Kapital nicht mehr knapp sein. Was hat „Kapitalismus“ dann noch zu bedeuten, wenn das, worum sich im Kapitalismus alles dreht, das Kapital, keinen Preis mehr hat, also im Überfluss vorhanden ist? Insofern beanspruchen vW/K zu Recht, nichts weniger als eine neue Wirtschaftstheorie vorgelegt zu haben, eine Theorie für die Zeit nach dem Ende der Kapitalknappheit, die neues Denken verlangt.

Die Überlegungen der Autoren sind in der ökonomischen Theorie tief fundiert, oft sehr subtil, und setzen hie und da beim Leser gute volkswirtschaftliche Kenntnisse voraus. Glücklicherweise, und nur deshalb kann und soll das Buch hier besprochen werden, bemühen sich die Autoren mit Erfolg, die Grundlinien ihrer Überlegungen auch Lesern ohne ökonomische Vorbildung deutlich zu machen. Diesem Zweck dienen die den jeweiligen Kapiteln vorangestellten prägnanten Kurzfassungen, der weitgehende Verzicht auf formelhafte Darstellungen sowie eine klare Sprache. Auch die Zweiteilung des Buches in einen ersten theoretischen Teil und einen zweiten, der wirtschaftspolitischen Anwendung gewidmeten Teil kommt unterschiedlichen Leserinteressen entgegen.

Neues Denken wird nach vW/K auch im Bereich des internationalen Handels erforderlich. So sehen sie ein „neues Zeitalter der internationalen Wirtschaftspolitik“ kommen. In Zeiten säkular sinkender Zinsen und einer Zinsuntergrenze von null wird die Friedman-Welt der Vollbeschäftigung mehr und mehr von einer Keynes-Welt der Unterbeschäftigung und des Nachfragemangels abgelöst. In einer solchen Welt degeneriert der internationale Handel von einem die globale Wohlfahrt erhöhenden Instrument zu einem die globale Wohlfahrt und Beschäftigung umverteilenden Element. Kooperation weicht so der Konfrontation. Die Gewinnung von Beschäftigung und Arbeitsplätzen im Inland zulasten des Auslandes wird zur prioritären handelspolitischen Strategie, die Höhe des Exportüberschusses sein Erfolgsindikator. Die Verfügbarkeit eines großen Absatzmarktes für ausländischen Produkte wird zum stärksten Trumpf in der strategischen Handelspolitik eines Landes. Die aktuellen Handelskonflikte zwischen den USA einerseits und China und der EU andererseits belegen die These. Zur Überwindung der Konfrontationsstrategie bedürfe es einer internationalen Koordination der Wirtschaftspolitik, insbesondere einer internationalen Fiskalordnung. Diese solle in Form eines „Internationalen Bilanzabkommens“ die teilnehmenden Länder verpflichten, mit geeigneten fiskalpolitischen Maßnahmen auf eine Beseitigung von Leistungsbilanzungleichgewichten hinzuwirken.

In Zeiten niedriger, d.h. hier unter der Wachstumsrate liegender, Realzinsen sollten die Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen ihre Ausgaben erhöhen, also ihre Haushaltsdefizite hochfahren. Dies verringert sowohl die Leistungsbilanzüberschüsse im eigenen Land als auch die -defizite der anderen Länder und nimmt so Protektionsforderungen in den Defizitländern die Spitze. Von einer Beteiligung der Defizitländer am Tragen der Lasten der Anpassung sollte abgesehen werden, weil dort eine fiskalische Kontraktion Beschäftigungseinbußen verursachen würde. Angewendet auf die Eurozone folgt daraus, dass Deutschland und die anderen nördlichen Euroländer darauf verzichten sollten, von den Ländern des Südens fiskalische Konsolidierung einzufordern und stattdessen mit schuldenfinanzierter Erhöhung öffentlicher Ausgaben auf den Abbau der eigenen unmäßig hohen Exportüberschüsse hinwirken. Doch damit nicht genug: Die Autoren verlangen ferner, dass Deutschland seine Schuldenbremse abschafft. Das überrascht nicht, da sie ja für eine dauerhaft wachsende Staatsverschuldung plädieren. Und auch für die Geldpolitik der EZB bietet den Autoren ihre neue Theorie einen Beurteilungsmaßstab: Die Ursache für das niedrige Zinsniveau liegt danach in der demographisch bedingten hohen Ersparnisbildung, nicht in einer lockeren Geldpolitik der EZB. Die EZB könne zinspolitisch nur das nachvollziehen, was realwirtschaftlich-demographisch vorgegeben sei. Eine machtlose EZB! Eine machtlose EZB? Nun ist neues Denken nicht immer gut, altes Denken nicht immer falsch. Nicht jedes Argument der Autoren überzeugt: So zutreffend es ist, keinen ökonomischen Sinn in unseren hohen, heutigen Exportüberschüssen zu sehen, so wenig zwingend ist die Schlussfolgerung, ihnen mit wachsender Staatsverschuldung begegnen zu wollen. Die Crux der Währungsunion ist nicht, dass Deutschland zu viel spart, sondern dass es den südlichen Mitgliedsländern an Wettbewerbsfähigkeit fehlt. Ohne eine dauerhafte Korrektur der relativen Lohnstückkosten ist dieses Manko nicht zu beheben. Auch sind die Gründe für die Einführung der Schuldenbremse keineswegs entfallen. Und dem von den Autoren verlangten neuen, positiven Denken über wachsende Staatsverschuldung steht die generationenübergreifende negative Erfahrung entgegen, dass hohe Staatsverschuldungen selten ein gutes Ende genommen haben.

Auch der These des Buches, Kapital sei mittlerweile im Überfluss vorhanden, der Preis für seine Inanspruchnahme, der Zins, sei nahe null, und liege auf jeden Fall niedriger als die Wachstumsrate des Volkseinkommens, muss widersprochen werden. vW/K verwenden als Zins die Anleihen- und Kreditzinsen, also Fremdkapitalkosten. Wie Homburg gezeigt hat, führt die Berücksichtigung von Eigenkapitalkosten zu durchschnittlichen Kapitalkosten und einem Durchschnittszins von weit über null, sodass von einem Kapitalüberfluss keine Rede sein kann. Zudem müsste, wenn der Zins tatsächlich kleiner als die Wachstumsrate des Volkseinkommens wäre, die Ungleichheit zwischen Kapital- und Lohneinkommen abgenommen haben. Tatsächlich hat sie aber, wie Piketty (FBJ 1/2015) gezeigt hat, seit den 1980er-Jahren deutlich zugenommen. Alles in allem: Dies ist ein bedeutendes Buch, wirtschaftstheoretisch, wirtschaftspolitisch und allgemein politisch. Die Lektüre wird für jeden, der an wirtschaftlichen Fragen interessiert ist, ein Gewinn sein. Es wird die wissenschaftliche Debatte, insbesondere auch nach der Übersetzung des Buches ins Englische, noch lange befeuern. Ob die Darstellung der Möglichkeiten von Fiskalpolitik und Staatsverschuldung in den leuchtendsten, ihrer Grenzen hingegen in arg blassen Farben, ein gänzlich zutreffendes Bild zeichnet, mag man freilich mit guten Gründen bezweifeln.

Prof. Dr. Karlhans Sauernheimer (khs) wirkte von 1994 bis zu seiner Emeritierung im März 2010 als Professor für VWL an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er publiziert schwerpunktmäßig zu Themen des internationalen Handels, der Währungs- und Wechselkurstheorie sowie der Europäischen Integration. Er ist Koautor eines Standardlehrbuchs zur Theorie der Außenwirtschaft und war lange Jahre geschäftsführender Herausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftswissenschaften karlhans.sauernheimer@uni-mainz.de

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