Theologie | Religion

Die Wiege des Islam

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

Glen W. Bowersock, Die Wiege des Islam. Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen. Aus dem Engl. von Rita Seuß. München: C.H. Beck, 2019. 160 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-406-73401-4. € 22,00

    Wie kam es zur Weltmacht Islam? Das liegt „heute genauso im Dunkeln“ wie im siebten Jahrhundert. Historiker beziehen Auskunft aus Quellen, deren interessegelenkte Einfärbungen sie vernünftig beurteilen müssen (Prolog, 7 und 16). Um Aufhellung bemüht sich in Auseinandersetzung mit neuerer und neuester Forschung Glen Bowersock, Professor emeritus für Alte Geschichte am Institute for Advanced Study in Princeton, zuvor in Harvard.

    Auf der Landkarte betrachtet ist die „Wiege“ des Islam ungefähr ein Rechteck. Als nördliche Schmalseite gelte die Linie von Bagdad über Jerusalem bis an den 1200 km entfernten Ostrand des Nildeltas. An der westlichen Längsseite, die sich über knapp 2400 km erstreckt, liegt das Rote Meer. Eine Ausbuchtung des Rechtecks im Südosten verengt den Persischen Golf zur Straße von Hormuz. Die Mitte der von Bergketten begleiteten Westküste nimmt die Region Hedschas ein, in der sich Mohammeds Geburtsort Mekka befindet. Das Süd-Ende des Westküstenlandes, gegenüber von Äthiopien, hieß damals Himyar. Am Ostrand der Berge entlang zogen Handelskarawanen vom Arabischen Meer zum Mittelmeer; in der Nähe von Mekka zweigte ein Weg zum Persischen Golf ab.

    Die Hirtennomaden und Kaufleute auf der Arabischen Halbinsel wurden aus dem Norden von zwei rivalisierenden Großmächten beobachtet: Byzanz und Persien. Im Mai 330 hatte Kaiser Constantinus die Stadt Byzantium auf der europäischen Seite des Bosporus zu seiner Hauptresidenz Constantinopolis weihen lassen. Durch ihn war das Christentum Staatsreligion geworden; der Bau der Kirche Hagia Sophia wurde 537 vollendet. Die neupersische Dynastie der Sassaniden von 226–651 hatte ihre Residenz in Mesopotamien, Flüsse abwärts von Bagdad, etwa gegenüber von Babylon am Euphrat: Ktesiphon am Tigris. Im 6. Jahrhundert dekretierte Schah Chosrau I. Zarathustras Lehre zur Staatsreligion. Sowohl Byzanz als auch Persien hielten sich unter den arabischen Stämmen Klienten, hörige Schutzbefohlene.

    Das 2017 bei Harvard University Press erschienene englische Original des Buches trägt den Titel „The Crucible of Islam“. Was für Metalle und Nichtmetalle wurden im „Schmelztiegel“ erhitzt und legiert? Mit einem anderen Begriff aus der Chemie erklärt Bowersock (53f): Das „Amalgam aus jüdischen, christlichen und polytheistischen Einflüssen“ in Zentral- und Südwestarabien hatte es in sich, charismatische Propheten hervorzubringen. Ein „Amalgam“ ist eine Legierung mit dem ziemlich edlen Metall Quecksilber. Die Geschichte vom Zustandekommen einer solchen Verschmelzung erzählt Bowersock in neun Anläufen. Ein Numismatiker-Kollege – Münzen sind eine recht objektive Auskunftsquelle für Historiker – hat für Bowerstocks Buch zwei Karten gezeichnet zum geographischen Zurechtfinden in den Regionen Himyar und Hedschas. (18, 46, 138)

    Im späten vierten Jahrhundert verstärkte sich die Präsenz des Monotheismus unter Arabern dramatisch: Zum Judentum übertretende Stämme errichteten in Himyar ein eigenes Reich. Zufällig zur gleichen Zeit traten jenseits des Roten Meeres die Äthiopier zum Christentum über (19f, 60, 90). Die Himyariten, Klienten Persiens, massakrierten 523 die auf halbem Wege zwischen der Südwestecke und Mekka in Nadschran siedelnden Christen. Aus diesem Anlass unternahm der in Äthiopien regierende christliche Negus, von Byzanz ermutigt, im Jahr 525 eine Invasion in Himyar. Der mit den äthiopischen Truppen eingezogene General Abraha machte sich dort zum Herrscher. In Sanaa ließ er einem Wunderbau von Kirche errichten, der mit der Kaaba, dem Polytheismus-Heiligtum in Mekka, konkurrierte. An einen Zug Abrahas gen Mekka 552 mag im Koran Sure 105 erinnern: „Auf den Herrn der Elefanten / warfen die Allah-gesandten / Vögel Steine, die gebrannten“. Abraha drang noch 400 km weiter nach Norden vor, so dass sein christlicher Staat auch die Siedlung Yathrib einschloss. Irgendwann um 560 ging Abrahas Reich zusammen mit dem Christentum als Staatsreligion in Arabien unter. In Absprache mit dem christlichen Byzanz übernahm das judenfreundliche Persien die Herrschaft über die Region. Nicht lange danach, um 570, wurde Mohammed geboren. (21-31, ähnlich öfter, cf. Register 155-160)

    In seinem 40. Lebensjahr, 610, sah Mohammed laut Koran 53,18.25 „von Zeichen seines Herrn das große“ – und wusste jetzt, nur Allahs „ist das Erst’ und Letzt’“. Zur Verehrung einer Göttervielzahl kamen die Wüstenaraber von den Karawanenstraßen nach Mekka zum Haram, dem heiligen (Tabu-)Bezirk um die Kaaba. Mussten die polytheistischen Bräuche nunmehr verwehrt werden? Vermeintliche Koran-Botschaften, die zur Duldung rieten, erkannte Mohammed im Nachhinein als „Satanische Verse“ und tilgte sie; nur die Nennung dreier Göttinnen soll übriggeblieben sein, Koran 53,19-20: „Was sind euch Allat und Osse / Und Menat, die Dritt-Genosse?“ (38, 64)

    Im Jahr 614 erstürmten persische Streitkräfte Jerusalem, wahrscheinlich mit Hilfe jüdischer Stadtbewohner (76f). In Mekka waren Anhänger der an Mohammed ergangenen Botschaften nicht wohlgelitten; eine zusätzliche Bedrohung schien von außerhalb zu nahen. Eine Gruppe wanderte 615 nach Äthiopien aus. Dort wurden sie freundlich aufgenommen. Möglicherweise folgte der ersten eine noch größere zweite Auswanderer-Gruppe.

    Der Negus soll, als ihm von den Koran-Gläubigen Verse zu Jesus und seiner Mutter vorgetragen wurden, Tränen der Rührung vergossen haben. (65-67)

    In einem für die Agrarwirtschaft geeigneten Landstrich 350 km nördlich von Mekka, in Yathrib, war die wohl größte jüdische Gemeinde Arabiens ansässig. Ihr gehörte der fruchtbarere Teil der Oase. Unter benachteiligten heidnischen Oasenbewohnern hatte die Koran-Botschaft Gläubige gewonnen. Rund siebzig von ihnen trafen sich 622 mit Mohammed und luden ihn und seine Anhänger nach Yathrib ein. Daraufhin kam es am 15. Juni zur Auswanderung aus Mekka, zur Hidschra, mit der die islamische Zeitrechnung beginnt, und Yathrib hieß fortan schlicht „Stadt“, Medina. Für die Einladung nicht nur zu Glaubensgenossen, sondern auch zu Heiden und Juden fand Bowersock „eine ebenso kühne wie einleuchtende Lösung“ im Beitrag von Michael Lecker „Were the Ghassanids and the Byzantines behind Muhammad’s hijra?“ in einer 2015 in Paris erschienenen Veröffentlichung über „Des rois arabes au service de Byzance“ (149 [140-153 Anmerkungen]). Vor Lecker war niemandem aufgefallen, dass genau im Jahre 622, im April, Heraklius I., Kaiser von Byzanz, seinen Feldzug gegen Schah Chosrau II. begann, der zum Zusammenbruch der Macht des Sassanidenreichs 628 führte. Um den Rücken frei zu haben für die Bekämpfung des Rivalen Persien, stiftete Byzanz vermutlich den seine Interessen vertretenden Klientel-Stammesverband der Ghassaniden an, den Propheten Mohammed in die „Stadt“ zu locken, damit er gegen das persische Interesse an dieser arabischen Juden-Hochburg ein ‚neutrales‘ Gemeinwesen organisiere. (90-97) Mohammeds Polis-Organisation gelang so, dass ihrer explosiven Verbreitungskraft keine spätantike Großmacht auf die Dauer gewachsen war. Von Medina aus erreichte Mohammed, dass in Mekka 630 der neue Glaube angenommen wurde. Durch Reinigung von der Vielgötterverehrung versetzte er die Kaaba in ihren Ursprungszustand zurück: erbaut von Abraham, dem ersten Hanif, der sich vom Polytheismus seines Vaters ab- und zur Wahrheit des Einen Gottes hinwandte (41f). Mohammed vollzog kurz vor seinem Tode 632 mit seinen medinensischen Anhängern die erste muslimisch-rituelle Wallfahrt, Haddsch, nach Mekka. (98f) Mohammeds Nachfolger, „Kalifen“, nahmen 635 Damaskus und 638 Jerusalem ein. Außerdem mussten sie Mohammeds alleinige Autorität gegen „rivalisierende monotheistische Propheten“ sichern (101). Deren gab es unter den Zeitgenossen etliche. Besonders von einem ist Kunde erhalten: Maslama. Er hatte bereits, ehe Mohammed nach Medina auszog, eigene Koran-Botschaften, Verse in gereimter Prosa, empfangen. Von denen, die nach Ausschaltung der Konkurrenzpropheten trachteten, wurde er Musailima, Maslama der Kümmerliche, genannt. (54f)

    Nach den vier ersten Kalifen ging die Regierungsmacht im islamischen Reich an die in Damaskus residierende Umayyaden-Dynastie über. Ab 661 lag das politische Zentrum stets außerhalb Mekkas, während die Kaaba das religiöse Gravitationszentrum des sich weltweit ausdehnenden Islam blieb – eine Art Zwei-Regimenten-Ordnung (113). Unter den Umayyaden entstand Ende des 7. Jahrhunderts in Jerusalem der Felsendom. Ihm ist Bowersocks Schluss-Kapitel gewidmet (121–131).

    Bowersock dankt (137f, 140) seinen Historiker-Kollegen für bereichernde Gemeinsamkeit, selbst wenn seine und ihre Ansichten zum selben Zeitabschnitt unvereinbar waren. So könnte man sich das Beieinandersein unvereinbarer Überzeugungen von Gott wünschen, die in Jerusalem symbolisiert sind von der Grabeskirche und dem Felsendom an der Stätte des salomonischen Tempels. Das Konzil, das 451 in Chalcedon am asiatischen Ufer des Bosporus gegenüber von Konstantinopel tagte, fand Formulierungen dafür, dass die Wahrheit Gottes die menschliche Vernunft überragt. (it)

    Ilse Tödt (it), Dr. phil., Dr. theol. h.c., seit 1961 ­nebenamtlich Kolle­giums­mitglied der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg.

    itoedt@t-online.de

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