Zeitgeschichte

Die Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2021

Anton Wirmer, Josef Wirmer – Die Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts. Stuttgarter StauffenbergGedächtnisvorlesung 2019. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 41 S., kart., ISBN 978-3-8353-3617-9, € 7,90.

Josef Wirmer, geboren 1901 in Paderborn, Vater des Autors, war Rechtsanwalt, aktives Mitglied der Zentrumspartei und ein Gegner von Hitlers Politik. Titel und Anlass zeigen schon, dass es in dem am 23.11.2019 im Stuttgarter Neuen Schloss gehaltenen Vortrag um den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime gegangen ist und um einen derer, die gegen dieses Regime angetreten waren. Der Sohn Anton hat die Ehre, „etwas über meinen Vater Josef Wirmer und das, was ihn geprägt und bewegt hat, sagen zu können“ (S. 5). Er beginnt mit einem Zitat aus einem der letzten Briefe seines Vaters aus dem Gefängnis, einer resümierenden Selbstbeschreibung: „Es ist merkwürdig, wie sehr sich das Leben am Schluss verengt. Ich habe immer in die große Weite und Breite gestrebt und bin durch das Leben gestürzt. Ich hatte viele Bedürfnisse und mein Ofen brauchte viele Kohlen. Wünsche und Ziele waren maßlos. Jetzt bin ich still und ruhig.“ Ziel des Vortrags des Sohnes ist es, „etwas über seinen Vater zu sagen, über das, was ihn geprägt und bewegt hat… Vielleicht auch über das, was er uns heute noch zu sagen hat“ (S. 5). Er weist alsbald darauf hin, dass er „ihn selbst kaum erlebt hat“, also nur über sein eigenes Bild sprechen könne, das sich erst im Lauf vieler Jahre… formen konnte, „geprägt auch von den Widerstandserfahrungen unserer Familie und der eigenen Auseinandersetzung damit (S. 6 f.). Der sieben Abschnitte umfassende Vortrag selbst beginnt mit „Die Pervertierung des Rechts“ (S. 6-11). Der Autor erinnert sich zunächst an „die wuchtige und unbeugsame Gestalt“ seines Vaters „und sein unerschrockenes Auftreten vor dem Volksgerichtshof“ sowie die „mutige(n) Wortwechsel mit Strafrichter Roland Freisler“; sodann an die Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen des Reichsgerichts, wonach bei der Inhaltsbestimmung allgemeiner Rechtsbegriffe seit dem „Umbruch“ auch das herrschende Volksempfinden und die nationalsozialistische Weltanschauung berücksichtigt werden (RGZ 134 ,342 [355]; RGZ 150, [14]), ganz im Sinn Roland Freislers, der 1936 sein Credo verkündet hatte, das Recht sei ein Kampf­ instrument, „Mittel um die eigene Macht des Regimes zu festigen“ (S. 8 mit Hinweis auf B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005).

Biografien wie die Josef Wirmers werfen ein Schlaglicht auf die Jahre 1932–1944 aus der Perspektive eines Mannes, der dazu beitragen wollte, dem erkannten Wahnsinn Einhalt zu gebieten.

„Was in den Gerichtssälen seinen Anfang nahm, wurde in Plötzensee zum Programm“, konstatiert Anton Wirmer (S. 9). Ein bewunderndes Er­innern an die Tapferkeit seiner Mutter in diesen Jahren und eine andeutende Beschreibung der häuslichen Atmosphäre, der Ruhe- und Ratlosigkeit des Vaters, des Schweigens über Vorgänge und Namen beenden den Abschnitt. Im 2. Abschnitt „Vorbehalte und Gedanken“ (S.1115) geht es, das Haus ist nach dem Tod des Vaters beschlagnahmt, um das monatelange Suchen nach einer dauerhaften Bleibe, die sie in Vechta dann finden. Einen Blick widmet er auch hier dem Vater, der in einem seiner letzten Briefe aus dem Gefängnis davor warnt, ihn in seinem Tun zu heroisieren, denn auch Leidenschaft und Ehrgeiz hätten ihn getrieben. Selbst nach dem Krieg seien die Vorbehalte gegenüber dem Widerstand noch groß gewesen, auch weil viele Ehemalige noch an den „Schaltstellen“ tätig waren. In Sachen Aufarbeitung tat sich lange Zeit: nichts. Die Heimatstadt Warburg in Westfalen aber habe bereits 1946 „ein erstes Gedenken“ ausgerichtet, Balsam für die Mutter. Dass der Autor eine Lanze für das Erinnern und gegen das Vergessen bricht (S. 14 f.), wird keinen Leser wundern. Im 3. Abschnitt widmet er sich Familie und Bildungsweg“ (S. 15-19), besonders dem Vater, seinem Herkommen sowie seiner Bildung (humanistisch-katholisch mit liberalem Gedankengut). Den Wunsch, Offizier zu werden, gibt er nach dem Soldatentod seines älteren Bruders zu Beginn des Jahres 1918 auf und studiert Jura. Schonfrüh faszinierte ihn die Politik, in die es ihn zog. Im 4. Abschnitt (S.20-25) schildert Wirmer die „Anfänge in der Politik“. 1928 Assessor iur., Eintritt in die Zentrumspartei, Hauptträgerin der neuen Republik. Der Vater votiert dort für eine Koalition mit der Sozialdemokratie (was sich in Preußen als stabilisierender Faktor erwiesen hatte). Es hinderte den gläubigen Katholiken nicht, Kontakte zu evangelischen Politikern, Juristen und Theologen zu pflegen, denn „Enge im Denken war ihm fremd“ (S. 21). Er befürwortete die Politik Brünings, eine Revision der Versailler Verträge und eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Landes. Sein Ziel: ein Mandat bei den Wahlen zum Preußischen Landtag im April 1932. Wahlkampf also, auch zu den beiden Reichstagswahlen im selben Jahr, gegen die NSDAP und deren Förderer, alles vergeblich. Die NSDAP nahm bei allen drei Wahlen zu. Alsdann stiegen Druck und Terror gegen Anstand und Moral. Jetzt also Ausbau der Anwaltskanzlei, die Zulassung als Notar wurde wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ verweigert. Der Sohn schildert seinen Vater als gesellig, gastfreundlich, dem Leben zugewandt. Es folgt im 5. Abschnitt (S. 25-29) „Der Weg in den Widerstand“. Nach den olympischen Spielen 1936 wurde das wahre Gesicht des Regimes immer deutlicher (S. 25). Wirmer nahm verstärkt Kontakte zu oppositionellen Kreisen auf, fand sie bei Teilen des Zentrums, in den katholischen Verbänden und bei Vertretern der Gewerkschaften. Das Reichskonkordat hielt er für falsch. Nach Zerschlagung organisierter Opposition suchte er Rückhalt insbesondere in der katholischen Arbeiterbewegung, nahm auch Verbindung auf zu Führern der ehemaligen Gewerkschaft wie J. Kaiser, W. Leuschner und M. Habermann (S. 27). Erste Überlegungen zum Widerstand folgten. 1941 lernte er C. Goerdeler und dessen mehr konservative Widerstandsgruppe kennen. Es kam trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtung zu regelmäßigen Treffen, denn in der Gegnerschaft gegen das NS-Regime waren sie sich einig. In dieser Zeit entschloss sich Wirmer zum aktiven Widerstand einschließlich gewaltsamen Vorgehens, trotz der damit verbundenen Risiken auch für die Familie. Im 6. Abschnitt beschreibt der Autor „Bemühungen um ein breites politisches Spektrum“ (S. 30-34). Nunmehr ging es um die Zusammenführung der „aus verschiedenen Lagern gebildeten Widerstandskreise“, die Angleichung der unterschiedlichen Konzeptionen eines neuen Staats. Nach den Erfahrungen mit dem Parteiensystem in Weimar war das Misstrauen groß. Wirmer trat – unbeirrbar –, eben dafür ein, dies sei „der Preis der Freiheit“ (S. 31). Die engere Zusammenarbeit mit dem militärischen Widerstand begann um die Jahreswende 1942/43. Graf Stauffenberg war an einer Kooperation mit den Zivilisten gelegen, schon um den Anschein eines Militärputschs zu vermeiden. Wirmer übernahm eine Vermittlerrolle, suchte nach Einigungsmöglichkeiten. Er hatte Justizminister werden und als solcher für die unverzügliche Bestrafung der Hauptbeteiligten und Säuberung der Justiz sorgen wollen. Mehrere Denkschriften hatte er diesen Zielen gewidmet. Der Fehlschlag des Attentats beendete alle Bemühungen. Die Radiomeldung soll ihn, sehr nachvollziehbar, geschockt haben. Am 4.8.1944 wurde er verhaftet. Ob das Scheitern schon „den Aufbruch zu einem freiheitlichen und menschlichen Deutschland“ markiere, wie Herr Maas am 20.4.2017 anlässlich einer Gedächtnisfeier sagte (S. 34), sei hier kommentarlos zitiert. Der 7. Abschnitt „Das Bindeglied“ (S. 35-41) dient einem Beitrag zur Diskussion darüber, „was den Widerstand im Kern ausgemacht hat und was die tragenden Beweggründe waren, die die Beteiligten in den Widerstand geführt haben“ (S. 35). Der Autor wendet sich gegen die Diskussion, ob die Akteure Demokraten gewesen seien oder ihre Verfassungspläne parlamentarisch-demokratisch ausgerichtet, das treffe nicht den Kern, um den es hier ging. Für ihn besteht er in der „Beseitigung des verbrecherischen Unrechtssystems“ und in der „Sicherung grundlegender Werte, um Menschenwürde und Freiheit, um Recht und Rechtsstaat“. Darin sieht er „das Bindeglied für alle“ (S. 36), was er sodann näher erläutert. Er beendet seinen Vortrag angesichts der derzeitigen Radikalisierung mit der Aufforderung, nach den Gründen dafür zu forschen, dass rechte und besonders rechtsradikale Parolen „bei einer zunehmenden Zahl von Bürgern wieder Gehör finden“ (S. 41).

Ein Vortrag über eine Zeit solcher Umbrüche einschließlich der größten Katastrophe in der Geschichte des deutschen Volkes kann nur kursorisch ausfallen. Aber Biografien wie die Josef Wirmers werfen doch ein Schlaglicht auf die Jahre 1932–1944 aus der Perspektive eines Mannes, der dazu beitragen wollte, dem erkannten Wahnsinn Einhalt zu gebieten.

Univ. Prof. Dr. iur. utr. Michael Hettinger (mh). Promotion 1981, Habilitation 1987, jeweils in Heidelberg (Lehrbefugnis für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsgeschichte). 1991 Profes­sur an der Universität Göttingen, 1992 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht in Würzburg, von 1998 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 in Mainz. Mit­herausgeber der Zeitschrift „Goltdammer’s Archiv für Strafrecht“.

hettinger-michael@web.de

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