Geschichte

Die Weltgeschichte der Ozeane

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2022

David Abulafia: Das unendliche MEER. Die große Weltgeschichte der Ozeane. Aus dem Englischen von Michael und Laura Su Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2021. 1132 S., geb., SU, 72 farb. und 59 s/w Abb., ISBN 978-3-10-002482-4, € 68,00.

    Als kürzlich die »Wonder of the Seas«, das mit 6988 Passagierplätzen und 2300 Crewmitgliedern größte Kreuzfahrtschiff der Welt, erstmals in See stach, bemerkte ein Passagier angesichts des Giganten der Meere launig: „Wir werden einen größeren Ozean brauchen!“ (in: Die Welt, 09.03.22).

    So spaßig der Kommentar auch gemeint war, macht er doch nachdenklich, da »Ozean« auch sprichwörtlich für Unendlichkeit, Maßlosigkeit, Unberechenbarkeit und Unergründlichkeit steht. Seit Menschengedenken flößt die Weite der Meere den einen unüberwindbare Furcht und Schrecken ein, ist ihnen ein schier erstickender Alptraum, während andere in der Grenzenlosigkeit, Wildheit und unablässigen fluiden Dynamik der Blauen

    Weiten das Symbol für Herausforderungen schlechthin sehen: für Neugier, Fernweh, Abenteuer und Freiheit. Die zentrale Rolle, die Ozeane in der Menschheitsgeschichte gespielt haben, klingt in den Daseinsmetaphern »Schiffbruch« für das immer gegenwärtige Risiko auf Hoher See und »Land in Sicht« als Ausdruck für das baldige Erreichen weit entfernter Ziele nach.

    Von der Odyssee, Moby-Dick, Robinson Crusoe bis Der ­alte Mann und das Meer steht der Kanon maritimer Klassiker für Grenzüberschreitungen, für schicksalhafte Bewährung oder Scheitern. Aber vermutlich zählt diese mittelbare Erfahrung kaum noch in Zeiten der weltweiten ökologischen, politischen, kulturellen, kommunikativen und ökologischen Vernetzung des Planeten Erde, der zu 71 Prozent von Ozeanen bedeckt ist und dessen exponentiell wachsende Bevölkerung zu etwa 80 Prozent an Küsten (oder küstennah) lebt und direkt mit den wechselhaften Launen des Meere aufgewachsen und vertraut ist. In flachen Küstenregionen wächst für deren Bewohner aufgrund des steigenden Meeresspiegels die Bedrohung, aber die prospektiven ökologischen Folgen des Klimawandels im Anthropozän sind nicht das Thema der vorliegenden Weltgeschichte „vom Meer aus erzählt“ (Cover-Text). Mit »The Boundless Sea. A Human History of the Oceans« legte David Abulafia (*1949), Professor für die Geschichte des Mittelmeerraumes an der Universität Cambridge, 2019 eine Weltgeschichte der Ozeane vor, die in einem breiten maritimen Panorama die lange Menschheitsgeschichte erzählt. Der britische Historiker gilt international als exzellenter Kenner der Maritimen Historie, einer Subdisziplin der zunehmend diversifizierten universitären Geschichtswissenschaften und musealen maritimen Sammlungen. Sein jetzt auch auf Deutsch erschienenes voluminöses Werk weckt hohe Erwartungen, da der Autor mit seinem 2011 veröffentlichten

    Band »The Great Sea: A Human History of the Mediterranean« (dt.

    »Das Mittelmeer: Eine Biographie«, 2013) ein hochgelobtes Standardwerk über das Mare nostrum verfasste, weshalb dieser einzigartige Kulturraum in der Globalgeschichte hier – leider – nahezu völlig ausgeklammert wird. »The Boundless Sea« nimmt im Titel für literaturaffine und marinebegeisterte Briten erkennbar Bezug auf Julia Capulets Liebesbeteuerung in: Romeo und Julia, von W.

    Shakespeare: »My bounty is as boundless as the sea, My love as deep«, und ist zugleich Ausdruck von Abulafias Passion, der See.

    Wenn sich der international geehrte Emeritus an das Mammutprojekt einer Weltgeschichte gewagt hat, so liegt er damit im Trend, wurde doch die europäische Geschichte allzu lange als Norm betrachtet und eine euro­ zentrische und häufig eurozentristische Sichtweise zunehmend als defizitär und dringend korrekturbedürftig wahrgenommen. Aber der relativierende Perspektivwechsel von Studien, die auf den historiographischen Vergleich weltweiter Großregionen fokussieren, ist nicht selten einer eurozentrischen Sichtweise verhaftet geblieben und wurde wegen mangelnder internationaler Expertise des »gehobenen Dilettantismus« bezichtigt.

    Beiden Vorwürfen entgeht David Abulafia einerseits aufgrund seiner jahrzehntelangen internationalen Forschungs- und Lehrerfahrung und andrerseits, weil er berücksichtigt, dass Weltgeschichte zwar global, aber nie umfassend sein kann. Abulafias Weltgeschichte „ist […] eher eine menschliche Geschichte als eine Naturgeschichte“ und betont die Rolle von „Kaufleuten bei der Herstellung und Knüpfung von Kontakten“ (S. 11). Das Buch befasst sich also nicht mit der Ozeanographie und auch „nicht mit den Auswirkungen des Menschen auf die Meeresökologie – die »submarine« Geschichte der Ozeane, es bleibt an der Meeresoberfläche, einmal abgesehen von den häufigen Bezügen auf Funde aus Schiffwracks […]“ (S. 19).

    Natürlich ist sich Abulafia der Bedeutung der drängenden ökologischen Themen des Klimawandels, der Meeresverschmutzung und des Artensterbens bewusst, was er auch intensiv betont, aber aufgrund seiner Kernkompetenz befasst er sich ausschließlich „mit zwischenmenschlichen Kontakten über die Ozeane hinweg, die Küsten und Inseln miteinander verbanden, und das hauptsächlich in Zeiten, als der menschliche Einfluss auf die Meere noch sehr begrenzt war […] (S. 19).

    In zahlreichen Episoden, die das geballte Geschichtswissen aus Spezialstudien und Primärquellen kompilieren und die immer wieder durch narrative Passagen der aufregenden maritimen Literatur und Seefahrtgeschichte aufgelockert werden, zeichnet Abulafia ein möglichst umfassendes, von den Ozeanen ausgehendes, weltweites Geschichtspanorama.

    Indem die drei vorkolumbisch oder nur wenig früher entdeckten, verkehrsmäßig nicht miteinander verbundenen maritimen Großsphären zunächst in drei getrennten Kapiteln (Pazifik; Indischer Ozean; Atlantik) behandelt werden und erst für die Zeit nach 1492 ein möglichst großes Gewicht auf die wechselseitigen Beziehungen der Ozeane gelegt wird, durch die Völker, Religionen und Zivilisationen einst relativ autochthoner geographischer Großre­ gionen über offene Seewege in Kontakt kamen, entwickelt Abulafia eine raum-zeitliche Struktur des komplexen Beziehungsgeflechts, unterstützt durch übersichtlichtes Kartenmaterial und ein ausführliches Register und gewaltiges Literaturverzeichnis. Somit vermag das Buch Werk beides: intellektuell zu fordern oder einfach nur schlicht zu unterhalten, aber dabei dürften hinreichende Vorkenntnisse und eine angemessene Konzentration bei der Lektüre durchaus hilfreich sein, um das Interesse an dem Monumentalwerk nicht zu verlieren und – das Wortspiel sei erlaubt – als »Leseratte« von Bord zu gehen. Aber dann würde man eine grandiose historische Erzählung versäumen, beginnend 176.000 v.u.Z. in der inselreichen Wallacea, dem indoaustralischen Zwischengebiet, von wo aus der moderne Mensch auf primitiven Flößen oder Bambusbooten vor 60.000 J. nach Sahul, die damals noch verbundene Region von Neuguinea, Australien und Tasmanien, vordrang.

    Anhand archäologischer, anthropologischer, paläogenetischer, ethnologischer, linguistischer historiographischer Quellen erfährt man, wie mutige Seefahrer mit erstaunlichen nautischen Fähigkeiten die Inselregionen des Pazifik, Melanesien, Mikronesien und Polynesien, erreichten und Migrationen über See zur Begegnung von Ethnien und Kulturen führten, lange vor der Entdeckung durch Europäer. Da der Pazifik besonders im Südwesten von Inseln übersät ist, „wurde [er] wegen der weit verstreuten, unbewohnten Inseln zu einem Meer der Migranten“ (S. 72), während die Anwesenheit von Menschen im Indischen Ozean, der als mittlerer Ozean im II. Teil im Fokus steht, „wegen der besiedelten, miteinander verbundenen Küsten zu einem Netzwerk von Händlern [wurde]“ (S. 71).

    Vielschichtig beschreibt Abulafia die Interaktionen an den Küsten Arabiens, Afrikas, Persiens, Indiens und Südostasiens in der Epoche von 4500 v.u.Z. bis 1500 u.Z.; er betont die spezielle Rolle der Küstenregionen vom Roten Meer, Persischen Golf und Arabischen Meer und die Bedeutung der großen Flusssysteme für die antiken Zivilisationen. In überwältigender Faktendichte werden die archäologisch und historiographisch gut belegten, aber auch die umstrittenen, sagenumwobenen Reiche und ihr Reichtum an Gütern beschrieben. Er bestaunt die nautische Herausforderung, die zyklisch wechselnden Tücken des Monsuns zu beherrschen, und schildert den durch Winde bestimmten jahreszeitlichen Rhythmus des Handels, der nicht nur den Austausch „teure[r] Notwendigkeiten wie Kupfer, Luxusmaterialien wie schwarzes Ebenholz und weißes Elfenbein, dazu Duftharze wie Weihrauch und Myrrhe“ (S. 75f.) sowie wertevolle exotische Gewürze umfasste, sondern auch den Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse wie Datteln und Getreide oder die Häute domestizierter Ziegen, Schafe und Rinder als Rohmaterial für Lederwaren.

    Abulafia beleuchtet die engen kulturellen Interaktionen zwischen den diversen Populationen und zeigt in Subkapiteln wie „Brahmanen, Buddhisten und Geschäftsleute“ oder „Der Drache geht über das Meer“, dass waghalsige seefahrende Kaufleute auch China, Japan und Korea erreichten, dort Handelskontakte knüpften und dabei ständigen Risiken auf See, aber auch von Piraterie ausgesetzt waren, ihre Fracht, z.B. kostbares Porzellan, zu verlieren. Im III. Teil Der junge Ozean geht es um die Geschichte des Atlantiks zwischen 22 000 v.u.Z. und 1500 u.Z., also die Epochen vor der Entdeckung Amerikas durch Christopher Kolumbus (1451–1506). Wer wie der Rezensent zwischen den Meeren Ost- und Nordsee aufgewachsen und mit der Geschichte des nordeuropäischen Raumes enger vertraut ist, dürfte die Lektüre über die Entdeckungs- und Plünderungsfahrten der Wikinger, die ethnographischen Befunde zur Besiedlung Islands, die Gründung der Hanse und deren Aufstieg zu einer mächtigen Handelsorganisation sowie die „englische Herausforderung“ vermutlich als Auffrischung bereits verschütteter Kenntnisse empfinden. Dagegen sind die Beiträge über den Aufstieg Portugals zur Seemacht, die Entdeckung, Besiedlung und Kolonisierung Madeiras, der Kanaren und anderer Atlantikinseln eine faktenreiche Ergänzung zu superfiziellen Reiseführern dieser heutigen Tourismusinseln, während die Eroberung der afrikanischen Küstenregion, die zu einem lukrativen Seehandel mit „Guineagold und Guineasklaven“ führte, eine Vorahnung der langen leidvollen Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus gibt.

    Wer nicht nach der ersten Hälfte der Lektüre des Wälzers »die Segel streicht« und »von Bord geht«, wird in zwei weiteren Teilen in die global vernetzten »Gewässer verschlagen«, die ab Ende des 15. Jhdt. zu einer „enormen Beschleunigung des Kontaktes zwischen Westeuropa und dem, was man sich damals so hoffnungsvoll als Indien vorstellte“ (S. 577), führten. Mit der Weltumseglung durch Ferdinand Magellan (1485–1521) 1520 u.Z. und den bahnbrechenden kartographischen und technischen Erfindungen wurden die Ozeane zunehmend beherrschbarer, aber auch geopolitisch umstrittener. In 20 Unterkapiteln des IV. Teils Ozeane im Austausch – 1492 bis 1900 entwirft Abulafia für die Epochen nach der Entdeckung der Neuen Welt ein fesselndes Panorama der ungleichen Konfrontation zwischen europäischen Eroberern und Amerikas Indigenen, skizziert die anschließende Rivalität der europäischen Großmächte um die See- und Handelsvorherrschaft, die gierige Ausbeutung unermesslicher Schätze und neuer Nahrungsgüter durch Kolonialismus und schändliche Sklaverei. Er zeigt seinen Lesern nicht nur das rege Leben und Treiben in den aufblühenden Handelshäfen des Atlantiks, sondern führt sie auf großen Galonen in die spanische Kolonie Manila, nimmt sie mit ins ursprünglich portugiesische Macau und auf Großseglern der Niederländischen Ostindien-Kompanie in das von einem Vielvölkergemisch kulturell geprägte Batavia, bevor es weitergeht nach „Austrialia oder Australia?“ und dann wieder nach Port Royal, den verkommensten Ort auf Jamaika, der 1692 durch ein Erdbeben völlig zerstört wurde. Die Schauplätze wechseln in rascher Folge; gerade erfährt man noch, wie „eine [US-amerikanische] Aristokratie des Geldes satt des Geblüts“ mit Tee, Fellen, Sandelholz und später Opium“ lukrativen Seehandel mit China betreibt, da geht es schon um die Erforschung Sibiriens, den nördlichen Pazifik und den russischen Pelzhandel, bevor die wichtige geopolitische Rolle Singapurs und Hongkongs am Südchinesischen Meer für die Seemacht Britannien erklärt wird und die Szene wieder ins Arabische Meer nach Maskat (Oman) und dann nach Mogador (Marokko) an die Atlantikküste wechselt.

    Mit einem emotional-nostalgischen Zitat aus Herman Mellevilles (1819–1891) Roman Moby-Dick (1851) klingt im V. Teil Die Beherrschung der Ozeane – 1850 bis 2000 die aufregende Epoche der Großsegler und des mutigen Walfangs an, bevor Abulfia erklärt, dass „nicht Seide, sondern Kohle […] die US-Amerikaner nach Japan [führte]“ und wie erstmals „Rauch ausstoßende »schwarze Schiffe« […] in der Bucht von Edo auftauchten“ (S. 934). Die Dampfschifffahrt läutete eine Zeitenwende ein, die mit dem Bau des Panama- und des Suezkanals die Weltmeere verband. Wenn Abulafia zum Schluss den Triumph der Dampfschifffahrt über die eleganten Tee-, Getreide- und Post-Clipper beschreibt, die Entwicklung internationaler Sicherheitsstandards (Plimsoll-Marke) erwähnt, das Goldene Zeitalter der internationalen Handels- und Passagierschifffahrtslinien, mächtiger Reedereien und blühender Hafenstädte in Erinnerung ruft, aber auch deren partiellen Niedergang durch die Konkurrenz der Passagierluftfahrt sowie wegen ihren ungünstigen geographischen Lage im Hinblick auf den Gigantismus beim Bau von Kreuzfahrt- und Containerschiffen erwähnt, dann weckt dieser zeitgeschichtliche Rückblick nostalgische Wehmut, angesichts der zukünftigen Herausforderungen der modernen Seefahrt, die fast täglich Thema der Medien sind, wenn es um den Stopp des Baus der Global Dream in Wismar, die Havarie der Ever Given im Suezkanal oder den zum Untergang führenden Brand auf der Felicity Ace mit 4000 Luxusautos geht. Fazit: Wem bewusst ist, dass keine Weltgeschichte, wie groß sie auch sein mag, vollständig und umfassend sein kann, findet in Abulafias mehrfach preisgekröntem Opus Maximum eine laut Abulafia angestrebte „abgerundete Geschichte der Ozeane“, die auf die Kulturgeschichte fokussiert. Mit beeindruckender Geschichtskenntnis, fesselndem Erzählstil und meisterhafter Vernetzung von Mikro- und Makrohistorie navigiert der welterfahrene Doyen der maritimen Geschichtswissenschaft seine Leserschaft in rauschender Fahrt über »das unendliche Meer«, vorbei an »Roßbreiten« und »Kalmen«, soll heißen, dass bei der einzigartigen Lektüre nie Flaute oder Langeweile aufkommt. Welch ein großartiger Wurf! (wh)

    henkew@uni-mainz.de

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