Zeitgeschichte

Die Schatten der Bonner Republik

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2023

Der erste Bonner Amtssitz des Bundesministeriums der Justiz gibt seit nunmehr einem Jahrzehnt einem beachtlichen Aufarbeitungsprojekt zur Verantwortung des Ministeriums und seiner Akteure im Nationalsozialismus und zu den Brüchen und eher noch personellen und institutionellen Kontinuitäten in den ersten Jahrzehnten des Bundesministeriums der Justiz einen klangvollen Namen: „Rosenburg“. Das Ministerium hatte bereits 2012 eine Unabhängige Wissenschaftliche Kommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit – unter der Leitung des Historikers Manfred Görtemaker und des Strafrechtlers Christoph Safferling – eingesetzt. Die Unabhängige Wissenschaftliche Kommission sollte eine Untersuchung der personellen und fachlich-politischen Kontinuitäten des nationalsozialistischen Deutschlands im Regierungshandeln des Bundesjustizministeriums in der Nachkriegszeit der 1950er und 1960er Jahre durchführen. Nach dem grundlegenden Abschlussbericht der Kommission (siehe: Techniker des Rechts und des Unrechts, fbj 1/2017) trägt das Projekt neben einer sehenswerten Wanderausstellung nun auch Früchte in Gestalt von fortgesetzten Symposienbänden und vertiefenden Studien über die Rolle einzelner Akteure aus der Ministerialverwaltung.

Gerrit Hamann, Max Merten. Jurist und Kriegsverbrecher. Eine biografische Fallstudie zum Umgang mit NS-Tätern in der frühen Bundesrepublik, Die Rosenburg, Schriften zur Geschichte des BMJ und der Justiz in der frühen Bundesrepublik. Band 4, Hrsg. v. Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, Hardcover, 2022, 792 S., Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-35224-3, € 90,00.

    Was personelle Kontinuität bedeuten kann, zeigt sich exemplarisch an Max Merten, von Hause aus Jurist, der 1943 in Saloniki maßgeblich an der Verfolgung der jüdischen Gemeinde beteiligt gewesen ist. Als Kriegsverwaltungsrat erpresste er von der jüdischen Gemeinde 1,9 Milliarden Drachmen und sagte im Gegenzug die Befreiung griechischer Juden aus der Zwangsarbeit zu. 9000 kamen frei, nur um kurz darauf nach Auschwitz verbracht und ermordet zu werden. Monströse, differenziert und in großer Akribie in der Göttinger Dissertation von Hamann nachgezeichnete, Kriegsverbrechen hinderten nicht seine Wiederanstellung im Bundesjustizministerium im Jahr 1952. Indes verließ er die Rosenburg schon nach kurzer Zeit. Das hielt das Justiz- und Außenministerium aber nicht davon ab, ihm mannigfache Hilfe zu leisten, als er 1957 in Athen im Urlaub verhaftet und später wegen Kriegsverbrechen zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Die ministerialen Bemühungen verhalfen Merten schon nach Verbüßung von acht Monaten Strafhaft zur vorzeitigen Entlassung im November 1959. Am 1. August 1961 berichtete der „Spiegel“, dass Merten im Eichmannprozess als Entlastungszeuge vorgesehen war und „zwecks Rettung aus pekuniären Schwierigkeiten“ Nachrichtenübermittler einer amerikanischen Agentur wurde. Wirtschaftliche Schwierigkeiten mögen neben Undank und Uneinsichtigkeit in die eigene Rolle ein Grund gewesen sein, dass Merten mit Hilfe des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann und dessen Sozius Diether Posser einen Rache- und Rehabilitierungsfeldzug initiierte, der nicht nur das deutsch-griechische Verhältnis massiv belastete, sondern auch ­führende Persönlichkeiten wie Kanzleramtschef Globke und den griechischen Ministerpräsidenten Karamanlis in Bedrängnis brachte. Mertens Biografie illustriert die Verwicklung des deutschen Juristenstandes in NS- und Kriegsverbrechen, die „braunen“ Kontinuitäten in den Zentralbehörden der jungen Bonner Republik und deren problematische Vergangenheitspolitik. Hamann ist in der Ausgewogenheit und Materialfülle ein großer Wurf gelungen.

     

    Markus Apostolow, Der „immerwährende Staatssekretär“. Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz 1949 – 1963, Die Rosenbur ­ g, Schriften zur Geschichte des BMJ und der Justiz in der frühen Bundesrepublik. Band 1, Hrsg. v. Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, ­ Hardcover, 2019, 366 S., Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-35694-4, € 60,00.

      Walter Strauß wurde 1900 in Berlin geboren, er wuchs in einem jüdischen Elternhaus auf, studierte Rechtswissenschaften, wurde 1924 in Heidelberg promoviert und trat 1928 in das Reichswirtschaftsministerium ein. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde der Protestant Strauß 1935 entlassen, seine Eltern wurden Opfer der Shoa. Nach dem Krieg wirkte Strauß in unterschiedlichen Verwaltungen der amerikanischen Besatzungszone, Hessens und der Wirtschaftszonenverwaltung. Er gehörte dem parlamentarischen Rat an und war – hiermit sind wir im Kontext des Rosenburg-Projektes – von 1949 bis 1963, als er im Zuge der Spiegel-Affäre aus dem Ministerium ausschied, Staatssekretär im Bundesjustizministerium, bevor er 1963 als Richter an den jungen Europäischen Gerichtshof berufen wurde. Walter Strauß war als erster Staatssekretär maßgeblich für den personellen Aufbau des Ministeriums verantwortlich, er diente unter fünf Ministern und war damit der, der immer schon da war. Damit verkörperte er die Kontinuität in der Ministerialverwaltung und galt – wie man nach der Lektüre der anschaulichen Studie Apostolows in personalwirtschaftlicher Hinsicht zu Recht festhalten muss – als der eigentliche »Herrscher der Rosenburg«. Durch seinen Führungsstil prägte der Gründungsstaatssekretär den Geist des Hauses für lange Zeit. Obwohl er jüdischer Herkunft war und im Nationalsozialismus zum Kreis der rassisch Verfolgten gehört hatte, griff Strauß bei der Auswahl des Personals in hohem Maße auf die Mitarbeit von Personen zurück, die durch ihre Tätigkeit im »Dritten Reich« belastet waren. Die Gründe hierfür macht die facettenreiche Untersuchung nicht nur anhand biografischer Prägungen, die Strauß im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Besatzungszeit erfahren hatte, sondern auch durch eine umfassende Darstellung der wesentlichen Merkmale und Kennzeichen seiner Personalpolitik einsichtig. Eine lesenswerte Studie, die belegt, dass institutionelle und persönliche Verantwortung zu unterscheiden sind.

       

      Gerd J. Nettersheim, Doron Kiesel (Hrsg.), Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit. Bewertungen und Perspektiven, Die Rosenburg, Schriften zur Geschichte des BMJ und der Justiz in der frühen Bundesrepublik. Band 3, Hrsg. v. Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, Hardcover, 2021, 400 S., Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-35218-2, € 50,00.

        Die Beiträge in dem von Nettersheim und Kiesel herausgegebenen Sammelband weiten die Perspektive auf die „Rosenburg“ und das Aufarbeitungsprojekt multiperspektivisch. Ein Schwerpunkt liegt erneut in der schlaglichtartigen Bewertung der Rolle des Bundesjustizministeriums und seines Umgangs mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit und personell vermittelten Kontinuitäten. Auch Strauß und Merten begegnet der Leser hier wieder. Der Band beleuchtet den mühsamen Entscheidungsprozess des Ministeriums, die eigene Geschichte aufzuarbeiten und stellt die signifikanten Forschungsergebnisse dar. Die Perspektive wechselt sodann auf die Verantwortung auch der Bundesgerichte und damit der Rechtsprechung auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die ­Prozesse werden aus verfassungsrechtlicher und internationaler Perspektive eingeordnet. Das Werk verdeutlicht, dass der historische Befund eine hohe aktuelle gesellschaftliche Bedeutung hat. Aus unterschiedlichen Perspektiven – auch aus internationaler Sicht – wird der Frage nachgegangen, welche Lehren und Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Dies gilt etwa für nationalsozialistische Denkmuster, die heute noch fortleben. Die Verantwortung der Juristen und ihre rechtsethische Ausbildung werden ebenso auf den Prüfstand gestellt wie die Rolle des Staates als Gesetzgeber. Und nicht zuletzt wird auch unsere Erinnerungskultur einer kritischen Betrachtung unterzogen. Der Band ist als Reflexion des Rosenburg-Projektes in seinem rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext zu lesen und macht die Pfadabhängigkeiten historischer Forschung ebenso deutlich wie ihre ungebrochene Notwendigkeit.

         

        Hilde Farthofer, Neuausrichtung des Staatsschutzes nach 1945? Die Beispiele Bundesrepublik Deutschland, Italien und Österreich, Die Rosenburg, Schriften zur Geschichte des BMJ und der Justiz in der frühen Bundesrepublik. Band 2, Hrsg. v. Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, Hardcover, 2019, 610 S., Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-31084-7, € 75,00.

          Rechtshistorische Arbeiten tragen nicht selten an einem Perspektivenproblem: Folgen sie „modernen“ Ansätzen der Geschichtswissenschaft und wählen biographische, mentalitätsgeschichtliche oder mikrohistorische Untersuchungsmatrizen, droht ein Verlust an Aufmerksamkeit im rechtswissenschaftlichen Diskurs. Wählen sie hingegen die klassische dogmengeschichtliche Perspektive einer in Teilen noch in den Wissenschaftsidealen des 19. Jahrhunderts schwelgenden Fachdisziplin, sind ihre Ergebnisse nicht transdisziplinär anschlussfähig oder schlicht langweilig. Hilde Farthofer ist diesem Dilemma meisterhaft entkommen, verbindet ihre Arbeit doch biographische und positivistisch-normative Ansätze und dies zudem noch in rechtsvergleichender Hinsicht. Die Arbeit schildert die Wege Deutschlands, Österreichs und Italiens zur Demokratie anhand eines klassischen Mittels der „Wehrhaftigkeit“ demokratischer Ordnungen, nämlich ihres Schutzes durch Strafrecht, genauer durch das Staatsschutzrecht. Eng verbunden mit der Ausformung und der Umsetzung dieses Ausschnitts aus dem staatsbezogenen Kernstrafrecht waren die Referenten der Staatsschutzabteilungen mit ihren biographischen Kontinuitäten. Hilde Farthofer beschäftigt sich in ihrem Buch daher nicht nur mit den nach 1945 bzw. 1943 geltenden Staatsschutzstrafrechtsnormen und deren Umsetzung in die Praxis, sondern auch mit den Biografien der Referenten. Zudem macht die Studie deutlich, dass nicht nur die Personen im Staatsschutz, sondern auch die einzelnen innen- und außenpolitischen Gegebenheiten der Staaten, ihre Sicherheits- und Außenpolitik im sich vertiefenden Ost-West-Konflikt eine wesentliche Rolle spielten. Die Studie zeigt eindringlich, dass der Bruch mit dem alten NS- bzw. faschistischen Strafrecht – auch bedingt durch die Personalkontinuität der Staatsschutzreferenten – nicht vollzogen wurde. Ihr Informationsgehalt wird durch einen gerade in der Rechtsvergleichung hilfreichen Normanhang wesentlich erhöht.

           

          Friedrich Kießling / Christoph Safferling, Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF, Hardcover, 2021, 608 S., dtv., ISBN 978-3-423-28264-2, € 34,00.

            Erst im Jahr 2017 wurden die Autoren der hier angezeigten Studie mit der Untersuchung der Rolle und Kontinuitäten der Bundesanwaltschaft beauftragt, die sich damit in die da schon lange Reihe staatlicher Institutionen einreihte, die sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und den Kontinuitäten in der Bundesrepublik durch unabhängige historische Untersuchungen stellten. Spät, aber besser spät als nie. Die Bundesanwaltschaft hat den Auftrag, den Staat zu schützen und zur Rechtseinheit beizutragen. In der frühen Bundesrepublik ging sie mit harter Hand gegen Kommunisten vor, war in die Spiegel-Affäre verwickelt, erlebte dabei eine gesellschaftliche Katharsis und musste sich Anfang der 1970er-Jahre mit der Bekämpfung der aufkommenden RAF einer bis dahin unbekannten Bedrohung stellen. Zugleich scheute die Bundesanwaltschaft eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihrer eigenen Mitarbeiter – obwohl viele bereits im »Dritten Reich« wichtige juristische Positionen bekleidet hatten. Erstmals wird in diesem Buch die Geschichte der Bundesanwaltschaft zwischen 1950 und 1974 erforscht. Die ausgesprochen ausdifferenzierte und akribische Untersuchung zeigt erneut in den Biographien der Mitarbeitenden mit der Geschichte und der Verstrickung der Bundesanwaltschaft Kontinuitäten mit der Reichsanwaltschaft, aber auch ein gutes Stück Kulturgeschichte der konservativen Adenauer-Republik, die auch in ihrer „braunen“ Durchsättigung den nationalkonservativen Etatismus der Adenauer-Republik stützte und ihren Schutzauftrag gegenüber der freiheitlichen und sich pluralisierenden Demokratie auch erst langsam lernen musste. Die Studie ist nicht frei von Redundanzen und Versatzstücken professioneller institutioneller „Aufarbeitungsforschung“, die aber in der Breite des Adressatenkreises auch nützlich sein mögen. Die erstmals im Einzelnen nachvollziehbaren personalen und vor allem auch mentalitätsbezogenen Kontinuitäten lassen trotz aller Ausgewogenheit schaudern. Nach der Lektüre kann man kaum daran zweifeln, dass Staatsschutz auch eine Gefahr für eine freiheitliche, demokratische Verfassungsordnung sein kann. Solche Studien machen deutlich, dass auch die Verteidiger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf eine gute Sehstärke auf beiden Augen angewiesen sind. Wenn das Ziel der Studie darin beschrieben wird, „ein Schlaglicht auf die heute hochaktuelle Frage, wie eine Demokratie den Staat schützen kann, ohne die eigenen Werte zu verraten“, zu werfen, dann kann die Antwort nur im Hinweis auf einen unabgeschlossenen und stets prekären Prozess liegen. Ein wichtiges Buch. (md)

            Univ.-Prof. Dr. Michael Droege (md) hat einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verwaltungsrecht, Religionsverfassungsrecht und Kirchenrecht sowie Steuerrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen inne. In seinen Publikationen zum Finanzverfassungs- und Steuerrecht sowie zum Kirchen- und Religionsverfassungsrecht spiegeln sich seine Forschungsinteressen wider.

            michael.droege@uni-tuebingen.de

             

             

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