Kunst

Die Leere gestalten

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2020

Richard Speer, The Space of Effusion: Sam Francis in Japan. Edited by Debra Burchett-Lere. Zürich: ­Scheidegger & Spiess 2020, 224 S., ISBN 978-3-85881-861-4, € 68,00.

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und mehrere Ausstellungen haben in den vergangenen Jahren den Einfluss westlicher Kunst auf das moderne Japan rekonstruiert oder haben der Faszination, die von der japanischen Kunst, insbesondere von den Farbholzschnitten, auf europäische Maler ausgegangen ist, nachgespürt. Der hier besprochene Band sticht auf dem Gebiet der transkulturellen Kunst- und Kulturgeschichte insofern hervor, als er beide Perspektiven miteinander kombiniert. Er dokumentiert die wechselseitige Beeinflussung zwischen dem amerikanischen Maler Sam Francis (1924–1994), einem auch hierzulande bekannten Vertreter des abstrakten Expressionismus, und der Kultur und Kunstszene Japans. Das aufwendig gestaltete, mit hochwertigen Abbildungen und zahlreichen Fotos versehene Buch ist zugleich eine Monographie über den Maler Sam Francis und ein Katalog, der eine für 2020/21 geplante, derzeit aber verschobene Ausstellung im Los Angeles County Museum of Art über sein Werk begleitet. Die Ausstellung wird den Titel „Sam Francis in Japan: Emptiness Overflowing“ tragen; dieser Titel wird dem Oeuvre von Francis eher gerecht als der etwas sperrige Buchtitel „The Space of Effusion“. Sam Francis stammte aus Kalifornien und studierte in den Jahren zwischen 1948 und 1950 Kunst, beeinflusst u.a. von Mark Rothko. Er verstand sich nicht als „Kalifornier“, sondern eher als Kosmopolit. Frankreich, Mexiko, die Schweiz und Japan gehörten zu den Stationen seines Lebenswegs. In Paris, wo er Kontakt zu den Malern des Informel und zu bekannten Intellektuellen fand, hatte er 1952 seine erste Einzelausstellung. Während dieser Zeit traf er auch auf japanische Maler und Mäzene, die ihn 1957 zum ersten Mal nach Japan einluden. Damit begann eine Lebens- und Werkgeschichte, die – das zeigt die Studie des Kunstkritikers Richard Speer überzeugend – Sam Francis in die japanische Kunstszene hineinstellte. Über mehrere Jahrzehnte hinweg inspirierte Japan seine Malerei wie auch er die japanische Kunst beeinflusste und japanischen Künstlern zu Ausstellungen in den USA verhalf. Die Studie von Speer (und der Katalog) sind in zwei Teile untergliedert: der erste geht den persönlichen Bezügen von Sam Francis in Japan nach, der zweite thematisiert einen zentralen Aspekt seines Werks, nämlich die häufig in weißer Farbe gestaltete Leere zwischen den Farben. Es geht dabei um den japanischen Begriff des „Zwischenraums“ und die Frage, inwieweit er für die Kunst von Francis eine gestaltgebende Funktion hatte.

Schon als Schüler und junger Mann hatte Sam Francis ein Interesse an Asien entwickelt. Die Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis mit Atombomben lenkten das Augenmerk auf Japan, das sich nach dem Friedensvertrag von San Francisco von 1951 und dem Eintritt in die Vereinten Nationen 1956 wieder der Welt gegenüber zu öffnen begann. Die erste Japan-Reise im September 1957 war für Francis ein einschneidendes Erlebnis. „The Orient opened to me and I opened to the Orient“, schrieb er einige Jahre später in der Rückschau auf den gut zwei Monate währenden Aufenthalt (S. 35). Diesem folgten weitere Reisen in den 1960er und 1970er Jahren, in deren Verlauf Francis zum einen mit den traditionellen Künsten Japans in Kontakt kam und zum anderen die aktuelle Kunstszene in den japanischen Metropolen kennenlernte. Die wechselseitigen Einflüsse dokumentiert der Katalog anschaulich, etwa in der Gegenüberstellung der bemalten Wandschirme von Yamaguchi Soken (1759–1818) mit großflächigen ­Gemälden von Francis (S. 6/7 und S. 42/43) bzw. in den Bezügen zur japanischen Avantgarde in den 1950er und 70er Jahren, etwa der Gutai-Bewegung. Dieser Gruppierung ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das allerdings angesichts ihrer internationalen Bedeutung zu knapp ausfällt. Bald hatte Francis auch in T¯oky ¯o ein Atelier, wo er über die Jahre hinweg mehr als 1000 seiner Werke schuf. Er blieb aber nicht ständig in Japan, sondern kehrte immer wieder nach Kalifornien zurück, wo er im Jahre 1994 starb. Fünf Ehefrauen, darunter zwei Japanerinnen, haben ihn auf seinem Weg zwischen den Kulturen begleitet.

Sam Francis, Untitled, 1988. Etching, edition of 22, 142.24 x 56.52 cm (56 x 22 ¼ in.), printed by the Litho Shop, Inc., Santa Monica.
© Photo: Douglas M. Parker Studio, Los Angeles.

Die kunsthistorischen und ästhetischen Dimensionen der Beziehung zwischen Sam Francis und Japan leuchtet der zweite Teil des Bandes aus. Speer korrigiert die ältere These, wonach Francis erst in Japan auf das Konzept der Leere und des Zwischenraums aufmerksam geworden sei, und er zeigt, dass es schon vor dem ersten Japan-Aufenthalt 1957 zur Ausgestaltung freier Farbflächen kam. Das „Weiß“ in den Bildern von Francis ist kein leerer Raum, sondern ein „gemaltes Weiß“, das die Farben an den Rändern zum Leuchten bringt. Die Japan-Erfahrung hat diese Fokussierung auf den „freien Raum“ zwar nicht ermöglicht, aber unzweifelhaft verstärkt. Francis war, so Speer, auch aus persönlichen Gründen für die „Leere“ empfänglich, da er im Alter von 12 Jahren den Verlust seiner Mutter zu verkraften hatte – eine Grenzerfahrung, die ihn dauerhaft prägte. Sind die Thesen des Buchs insgesamt plausibel, so bleibt durch die starke Betonung der Farbe Weiß als Farbe des gestalteten „Zwischenraums“ ein Aspekt (und eine Farbe) unberücksichtigt, die für Francis vielleicht und für Japan ganz sicherlich von zentraler Bedeutung ist: das Blau, vor allem in seiner Variante des Kobaltblau. Sie ist in der japanischen Alltagskultur überall präsent, z. B. in der Keramik oder in den Textilien. Die Abbildungen im Katalogteil zeigen sehr schön, wie sich Francis dieser Farbe annimmt, und zwar nicht nur in seiner Malerei, sondern auch in der von ihm hergestellten Keramik, in Gouachen oder auf Plakaten. Die Titel einiger Bilder – „Blue Balls“ von 1961/62 oder „Floating Blue“ von 1958/59 – sprechen die Bedeutung dieser Farbe im Werk von Sam Francis unzweideutig an. Hier scheint ein weiterer Aspekt der „Inspiration Japan“ auf, dem der Autor nicht nachgeht. In der Gesamtschau bietet der Band seinen Lesern allerdings eine gut geschriebene, reich bebilderte Biographie von Werk und Person. Es wäre zu wünschen, dass ein europäisches Museum in nicht allzu ferner Zukunft diese Ausstellung aus Los Angeles übernimmt. (wsch)

Wolfgang Schwentker (wsch) ist Professor em. für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität ­¯Osaka und Mitherausgeber der Neuen Fischer Weltgeschichte. schwentker@hus.osaka-u.ac.jp

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