Geschichte

Die Hitlerjugend

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

André Postert: Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen, 2021, 458 S., ISBN 978-3-525-36098-9, € 39,00.

    Seit seiner Gründung 1993 trägt das Hannah-ArendtIn­stitut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden durch zahlreiche Forschungsprojekte zum Geschichtswissen über die Diktaturen und Autokratien im 20. Jahrhundert bei. Im hier rezensierten 68. Band der Schriften des HAIT analysiert der Historiker und Sozialwissenschaftler André Postert (*1983) die «Hitlerjugend». Auf Parteitagen und Massenveranstaltungen propagierte die NSDAP in wirkmächtigen Inszenierungen das Bild einer enthusiastisch im Geiste der «NS-Volksgemeinschaft» jubelnden Parteijugend. Der im «Dritten Reich» kolportierte Mythos einer «Hitlerjugend im Gleichschritt» wurde in der Nachkriegszeit medial perpetuiert und prägte unser kollektives Gedächtnis. Aber war die HJ „wirklich eine perfide, perfekt funktionierende Verführungsmaschine, die alle Kinder und Jugendlichen gefügig machte?“ (s. Backcover). Ein dreiviertel Jahrhundert nach Kriegsende hat Postert umfangreiche neue Quellen zur NS-Jugendorganisation gesammelt und auf Widersprüche des HJ-Mythos hin untersucht. Er hinterfragt „[d]ie Diskrepanz zwischen Propaganda und Realität oder zwischen Anspruch und Alltag dieser Organisation“ (S. 13). Wenn der Untertitel des Bandes die HJ als „eine überforderte Massenorganisation“ kennzeichnet, so ist die geschichtswissenschaftliche Korrektur des HJ-Mythos nicht grundsätzlich neu. Als einer der Ersten hat der Soziologe Arno Klönne (1931-2015) in Büchern wie Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner (1982, 3. Aufl. 2008) auf die Brüchigkeit der HJ hingewiesen. Jüngst wurde das indoktrinierte Zerrbild explizit durch die Wanderausstellung Jugend im Gleichschritt!? Die Hitlerjugend zwischen Anspruch und Wirklichkeit (NS-Doku Köln 2016) entlarvt. Da zudem die Politik der Reichsjugendführung (RJF) durch Michael Buddrus’ Standardwerk Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik (2003) „als nahezu aufgearbeitet angesehen werden [kann]“ (S. 25), wie Postert konzediert, richtet sich der Fokus seiner HAIT-Studie auf die Rolle „der regionalen Dienststellen und das Wirken der Hitlerjugend vor Ort“ (S. 25).

    Die Thesen der Forschungsstudie ergeben sich u.a. „aus dem Sammelsurium und Flickenteppich der oft sehr knapp gehaltenden Befehle und Berichte“ für die HJ-Dienststellen (vgl. S. 27). Die vorwiegend in der DNB Leipzig archivierten Dokumente waren für den internen Gebrauch bestimmt, um das Freiwilligenprinzip und den HJ-Grundsatz «Jugend führt Jugend» nicht zu untergraben. Neben dieser laut Postert „recht ergiebigen“ Quelle wurden Materialien aus Stadt-, Kreis- und Landesarchiven recherchiert, um Aufschluss über lokale, regionale oder konfessionelle Unterschiede im Verhalten von HJ-Mitgliedern zu gewinnen. Ferner „pflegt [das Buch] ein, was Geschichtswerkstätten, Sammler und Dokumentationsstellen über die lokale Hitlerjugend zusammengetragen haben“ (S. 27), und schließlich wurden Berichte, Interviews und private Aufzeichnungen von Zeitzeugen ausgewertet, also Ego-Dokumente, die bekanntlich einer sorgfältigen Überprüfung ihrer «Glaubwürdigkeit» bedürfen. Ein Methodenkapitel über die applizierten Analyseverfahren zur Abgleichung der widersprüchlichen Einschätzungen der HJ-Wirklichkeit, den Anspruch der RJF, der Perspektive «von oben», versus der lokalen «Alltagsrealität», der Perspektive «von unten» fehlt leider.

    Das I. Hauptkapitel Genese einer ­Massenorganisation schildert, wie die Nachwuchsorganisation der NSDAP 1926 als eine kleine, radikale und auf Freiwilligkeit und Selbstverwaltung basierende Organisation gegründet wurde und in der «Kampfzeit» bis 1932 mit einer begrenzten Mitgliederschaft u.a. mit bündischen und konfessionellen Jugendverbänden konkurrierte. Nach der «Machtübernahme» 1933 erfolgte die «Gleichschaltung» aller deutschen Jugendorganisationen; die HJ (s.l.) wurde mit ihren diversen Gliederungen und Einheiten zur einzigen staatlich zugelassenen Jugendorganisation im NS-Regime und eroberte den Alltag der Jugend.

    Die Gleichschaltung der konfessionellen Verbände vollzog sich nicht schlagartig, sondern war ein „langwieriger Prozess“ (S. 80), der mit „Reibungen im Alltag“ (S. 83) verlief. Die RJF intensivierte zwar kontinuierlich den Druck auf die Kirchen, war aber auch bemüht, „die religiösen Spannungen im Alltag abzubauen“ (S. 83).

    Ab Mitte der 1930er Jahre wurde obligatorisch verordnet, dass Kinder und Jugendliche der HJ angehören mussten, wenn sie einem Sportverein beitreten wollten. „Dennoch kannte die Realität des Alltags viele Ausnahmen“ (S. 95), da der Vereinssport und die HJ in vielen Fällen nicht umgehend fusionierten. Obwohl die Gleichschaltungspolitik die Sportvereine ja eigentlich überflüssig machen sollte, schlug sie vielfach fehl. Junge Menschen traten aufgrund der verordneten Doppelmitgliedschaft zwar in die HJ ein, schwänzten aber ihren Dienst. Erst mit der Einführung der Jugenddienstpflicht am 25. März 1939, die alle Jugendlichen im Alter von 10-18 Jahren zur Mitgliedschaft in der HJ verpflichtete, gab es eine gesetzliche Handhabe zur Erzwingung der Beteiligung. Zwar ging seitdem die Anzahl sog. «Karteileichen» deutlich zurück, aber „nicht wenige junge Menschen […] nutzten Lücken, die sich ihnen boten“. Es begann eine „Phase unerwarteter Ermüdungserscheinungen“ (S. 98).

    Über „das dauernde Konfliktpotenzial im Klassenzimmer“ (S. 105) liegt von 1933 bis 1936 eine „riesige Masse an Zeugenberichten“ (S. 105) vor, die die zentrale Bedeutung der Gymnasien für die HJ belegt. Das Gros der ehrenamtlichen Unterführer rekrutierte sich aus Schülern und nicht, wie die NS-Propaganda vorgab, aus sog. Jungarbeitern und Lehrlingen. Ferner dokumentieren die Schulberichte die „Bindekraft der Religion“ und die Rolle der „konfessionellen Ausrichtung der Schulen“ (S. 108) sowie deutliche Stadt-Land-Unterschiede. Mit dem Hitler-Jugendgesetz vom 1. Dez. 1936 wurde die Archivierung von „Erfassungsquoten“ (S. 113) verboten, um die offensichtliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität zu kaschieren. Durch die Gleichschaltung wuchs die HJ zur Massenorganisation und zu einer „bürokratischen Krake“ heran (S. 114). Damit wurde u.a. die Heimbeschaffungpraxis zu einem gewaltigen organisatorischen Problem, das immer im Provisorischen steckenblieb. Dazu folgten bald weitere Probleme wie „Einzel- und Gruppensadismus, körperliche und physische Quälerei […] unter Gleichaltrigen“ (n. M. H. Kater (vgl. S. 118). Die HJ wurde fragil, defizitär und prekär; aus der – nach Posterts recht problematisch kategorisierten – „aktivistischen Jugendbewegung“ wurde „allmählich der bürokratische, mehr und mehr reglementierende Hitlerjugend-Apparat“ (S. 113). „Wo man zuvor stets Kampf, Revolution und Umwälzung propagierte, sprach man jetzt häufiger von Erziehung, Formung und Schulung“ (S. 129). Der Missmut in der HJ wuchs. Das II. Hauptkapitel Anspruch und Realität der Hitlerjugend illustriert, wie das Ziel der RJF, durch Erziehung einen neuen Menschentypus zu schaffen, der sich treu und aufopferungsvoll in die «Volksgemeinschaft» einordnet, vielfach unterlaufen wurde. Postert dokumentiert die prekäre Seite der Partei- und Staatsjugend (vgl. S. 139) überwiegend für die männlichen Untergliederungen (DJ und HJ s. str.) und weitaus seltener für die weiblichen (JMB und BDM); er unterbreitet Straffälle von Korruption, Unterschlagung und Bettelei, Vandalismus und „Sachbeschädigung in Uniform“ (S. 151) und ab Kriegsbeginn auch massenhaften Schusswaffenmissbrauch.

    Ferner geht es um Fragen von Sexualität und Unsittlichkeit in der HJ, um Fälle von Homosexualität und Denunziation, um „Pubertätsentgleisungen“ (S. 178) sowie Kindesmissbrauch und „die Gefahr der homosexuellen Unterwanderung der Staatsjugend“ (S. 181). Postert schildert, wie sich die bereits in den 1920er-Jahren anbahnende „Debatte um den vermeintlich moralischen Verfall der Jugend“ (S. 185) im «Dritten Reich» fortsetzte, betont aber, dass die HJ „weder ein Zuhause für Päderasten […] noch die Brutstätte einer allgemeinen sittlichen Nivellierung“ war, aber die Melange „aus realen Vorfällen, […] aufgebauschten Gerüchten und politischen Kampagnen der Gegner, rührte gravierend am Selbstbild der HJ und […] wirkte radikalisierend“ (S. 190).

    „Schulung und Antisemitismus“ (S. 190) sind ein weiteres Thema, da die sog. „Judenpolitik“ des NS-Regimes „vor allem über die Parteijugend vermittelt werden [sollte]“ (S. 192). Die RJF schrieb ab 1937 Curricula über «Vererbungslehre, Eugenik, Rassengesetze» (S. 194) für Jugendliche fest. Da „Selbstführungsgebot“ (S. 195) bestand, aber wenige mit „Führungsverantwortung“ (S. 197) betraute HJler hinreichende Qualifikation und pädagogische Erfahrung zur Vermittlung der NS-Ideologie über «Rasse, Blut und Gene» besaßen, ergaben Kontrollen durch Staatsorgane „Mangel an weltanschaulicher Festigung“ (S. 198). Nach Postert „[bestritt] ein gewichtiger Teil der Zeitzeugen […], in der Hitlerjugend überhaupt indoktriniert worden zu sein“ (S. 196). Zu widerlegen ist das zwar nicht, aber unbestritten, dass „aus Kindern Claqueure und sogar Mittäter wurden“ (S. 196).

    Was die HJ und die Judenverfolgung betrifft, kam es trotz des verordneten Ausschlusses derjenigen, die „nach nationalsozialistischer Auffassung nicht „arisch“ waren“, in den ersten Jahren der Diktatur immer wieder vor, dass als Juden oder „Mischlinge“ geltende Kinder und Jugendliche in der Parteijugend waren, da sich die Beschaffung von Arier-Pässen schwierig gestaltete. Laut Aussage einer jüdischen Zeitzeugin sollte man sich aber nichts vormachen: „Auch Nichtnazikinder, auch wir Juden, fanden die Aktivitäten von BDM und HJ faszinierend…“ (S. 214f.). Aber die Rassenpädagogik zeigte bald Wirkung, indem es zu „Verrohung und Selbstermächtigung“ kam. (S. 219). Inwieweit sich die HJ an den Novemberpogromen beteiligte, ist nicht bezifferbar, aber der Autor mahnt, die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Befunde sollten nicht dazu führen, die Verantwortung der HJ kleinzureden (vgl. S. 227), gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass die HJ einen von der NS-Ideologie und Rassismus geprägten Sozialisationsraum darstellte, „aber womöglich war sie eine der am wenigsten durchherrschten, gelenkten und im Hinblick auf ihre Mitglieder homogenen Massenorganisationen der Diktatur“ (S. 233.)

    Im Kapitel Millionen im Gleichschritt? (S. 249f.) werden die sich mit der Zeit mehrenden Widersprüche in der NS-Jugendorganisation thematisiert. Es geht insbesondere um die Diskrepanz zwischen „Freiwilligkeit und Verpflichtung“, die Postert bereits in seinem kompetenten Aufsatz in Totalitarismus und Demokratie, 13 (2015, S. 185-205) behandelt hatte und hier mit souveräner Sachkenntnis ausbaute. 1939 erkannte die RJF, dass das Freiwilligenprinzip mit dem Totalitätsprinzip nicht vereinbar war und nur durch eine gesetzliche Jugenddienstpflicht ein „absolutes Totalitätsgebot“ (S. 268) realisiert werden konnte. „Am Ende dieser Häutung, die eine strukturelle ebenso wie mentale war“ (S. 273), stand Gewalt gegenüber denen, die sich verweigerten. Im III. Hauptkapitel Massenmobilisierung beschreibt Postert, wie der HJ-Apparat in der Kriegszeit zunehmend fragiler wurde, wie die Erfassungsappelle mit einem „enormen organisatorischen Aufwand“ […] „das wichtigste Instrument beim Zugriff auf die Kinder und Jugendlichen [bildeten]“ (S. 277) und wie die Katalogisierung einer „Mammutaufgabe“ gleichkam und in den späteren Kriegsjahren unter „Zuhilfenahme perfidester Mittel […] “ (vgl. S. 279) erfolgte.

    Die HJ-Dienststellen arbeiteten mit Ortspolizeibehörden und Kriminalpolizei zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ zusammen, und Jugenddienstarrest sollte für Zucht und Disziplin sorgen. In der Verfolgungspraxis und den Formen der Bestrafung gab es regional deutliche Unterschiede. Ab 1942 ging die RJF notfalls mit unerbittlicher Härte gegen rigide Dienstpflichtverweigerer vor; sofern politische Motive vermutet wurden, folgten „Arrest, Fürsorgeerziehung, Umerziehungslager oder gar KZ“ (S. 300). Postert skizziert, wie die HJ im Kriegsverlauf durch Staatsund Parteiauftrag zunehmend zu Notdiensten, wie „Ernte- und Werkeinsätze, Sammlungen, Kurier- und Verladedienste oder im Luftschutz“, herangezogen wurde und sich gleichzeitig die vormilitärische Ausbildung im „Kleinkaliberschießen mitsamt Geländedienst“ in den Vordergrund schob (S. 301). Ab 1942 erfolgte die gefürchtete Einberufung zur «Wehrertüchtigung» (S. 303) und mit der „Verordnung über die Heranziehung der deutschen Jugend zur Erfüllung von Dienstaufgaben“ vom 2. Dez. 1943 wurde es vollends ernst. Die älteren HJ-Jungen wurden von der Wehrmacht oder SS zu „Schanzarbeiten“ an der Front und BDM-Mädels ab dem 17. Lj als Nachrichtenhelferinnen eingesetzt, während jüngere Mädchen zur Nachbarschaftshilfe oder sog. «Kulturarbeit» in Lazaretten herangezogen wurden (vgl. S. 306). Im letzten Kriegsjahr 1944/45 geriet die Wirklichkeit mit den in der HJ vermittelten Erwartungen zunehmend in Konflikt. Die ideologische Sozialisation zum «Rassenhass» und die paramilitärische Schulung trugen nachweislich zur Verlängerung des Krieges im sog. «Endkampf» bei, während sich in den Kriegswirren insbesondere „in den Großstädten und urbanen Zentren plötzlich ungeahnte Freiräume zur Entfaltung [auftaten] (S. 323).

    Die HJ war in den Kriegsjahren gänzlich zur Zwangsgemeinschaft geworden, womit der Enthusiasmus vieler Mitglieder erlahmte. Die Desillusionierung führte zur Nonkonformität mit den Zielen der HJ und zu vermehrter Jugendopposition. Postert differenziert anhand eines breitgefächerten Quellenfundus zwischen Gegenkulturen, Unangepassten und Widerständlern, liefert aufschlussreiche Details über das abweichende Verhalten jugendlicher Subkulturen und Cliquen und konstatiert: „Abweichendes Verhalten war in den Kriegsjahren recht verbreitet – zumindest mehr, als man lange annahm. Protest oder Widerstand hingegen war das Geschäft einer kleinen Minderheit“ (S. 324). Er widerspricht dem Modell, wonach automatisch ein Mitläufertum vermutet wird, wenn man keine Hinweise auf politischen Widerstand findet, und schließt durchaus diskussionsbedürftig: „Im „Dritten Reich war nonkonformes Verhalten genuin politisch.“ (S. 335).

    Die anschließenden Ausführungen über disziplinarische Probleme, Jugendkriminalität und „Jugendverwahrlosung“ und die Aussonderung zur Umerziehung, die der Exkurs Spätes HJ-Pilotprojekt: Landesjugendhöfe“ beschreibt, sind wichtige Diskussionsbeiträge zur HJ. Das Schlusskapitel Bilanz skizziert, wie die „implodierte Hitlerjugend“, die nach Kriegsende „weiterhin herumgeisterte“ (S. 409), für die Besatzungsmächte zum Problem wurde. Symbolisch „für den ideologischen Verseuchungsgrad in der deutschen Jugend“ (S. 410) waren die brutalen Kriegsverbrechen und der sinnlose fanatische Widerstand der SS-Panzerdivision „Hitler-Jugend“ gegen die Alliierten.

    Postert schildert im Ausklang, wie die Besatzer trotz aller Skepsis gegenüber der deutschen Jugend, zuerst im August 1946 in der US-amerikanischen Besatzungszone das Risiko einer Jugendamnestie eingingen, wodurch – ganz ohne Nachfolgerin für die HJ – die Jugendbünde schnell wieder auflebten, während „im Osten die Transformation von einer Partei- und Staatsjugend in die nächste gelang“ (S. 420), ein Wandlungsprozess, der noch eines profunden Vergleichs von HJ und FDJ bedarf.

    Fazit: In der Nachkriegszeit «beschwiegen» die Überlebenden der Geburtsjahrgänge 1916 bis 1934, lt. M. H. ­Kater die «NS-regimespezifische Jugendkohorte», meist ihre Vergangenheit und versicherten sich gegenseitig, dass sie mitmachen mussten. Die – angebliche – Alternativlosigkeit einer politisch missbrauchten Jugend, die getreu bis in den Tod für das Vaterland kämpfte, hat sich mir als Untertertianer 1959 durch die apokalyptischen Szenen des Antikriegsfilms Die Brücke von Bernhard Wicki (1919–2000) tief ins Gedächtnis eingebrannt.

    Postert trägt durch akribisch recherchiertes Quellenmaterial aus der Alltagsrealität der HJ, der Perspektive «von unten», zu dem seit längerer Zeit laufenden Trend der Entlarvung des Mythos einer uniformen, zur bedingungslosen Treue indoktrinierten HJ bei. Sein Resümee lautet „Nie, ja nicht einmal zuletzt, hatte sie alle Menschen unterschiedslos erfasst oder sich sogar gefügig gemacht. Sie war kein eiserner Käfig, aus dem die Flucht nicht möglich gewesen wäre“ (S. 421). Damit will der ehemalige HAIT-Historiker die Bedeutung der HJ für die Sozialisation der Jugend des «Dritten Reiches» keineswegs verharmlosen, sondern einer pauschalen Entschuldigung der «HJ-Generation» den Boden entziehen und die Handlungsspielräume jedes Einzelnen sichtbar machen.

    Trotz des erwähnten Defizits einer klaren methodischen Beschreibung der differentialdiagnostischen Analyse des Quellenmaterials und der erschwerenden Lektüre durch die nicht ganz ausgereifte zeitliche und räumliche Strukturierung der Studie ist Posterts „Geschichte einer überforderten Massenorganisation“ für Fachwissenschaftler eine unverzichtbare, informationsgespickte Lektüre. Für interessierte Laien hingegen stellt die historische Narration mit ihrer kaum überschaubaren Aneinanderreihung zeitspezifischer Dokumente und 1.952 ausführlichen Fußnoten − auch wegen des Fehlens eines Glossars und eines Sachregisters – eine echte Herausforderung dar. (wh)

     

    Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. henkew@uni-mainz.de

     

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