Landeskunde

Die Geschichte Indiens – Anmerkungen zu zwei Neuauflagen

Hermann Kulke. Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute. 3. aktual. Aufl. 526 S. München: C.H. Beck 2018. Kt., € 24,95

Der Journalist und Diplomat K. Madhuvan Panikkar, Verfasser zahlreicher immer noch interessanter Werke zur indischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsstrategie, musste sich einst von einem frustrierten chinesischen Gelehrtenkollegen sagen lassen, die Geschichte des indischen Subkontinents lese sich wie ein Telefonbuch: Namen über Namen, nur kein Zusammenhang… worauf der in seinem Nationalstolz getroffene Panikkar nur einwenden konnte, dass es für die Frühzeit des Landes eben kaum Quellen gebe. Tatsächlich setzt nach den spärlichen Zeugnissen der indischen Antike, bei der man schon froh sein muss, den Namen der einen oder anderen Dynastie lokalisieren zu können, erst seit der Jahrtausendwende mit den muslimischen Eindringlingen eine wahre Flut von Chroniken und Berichten ein, die später von den immer kecker werdenden europäischen Neuankömmlingen durch eine andere Sicht von außen ergänzt wird: Portugiesen, Niederländer, Franzosen und – last but not least – Engländer berichten nun über das Land, das sie mit seinen Reichtümern so magisch angezogen hat.

Die Briten hatten es bald nicht mehr nur auf die Produkte, sondern auch auf die Ertragskraft des Landes abgesehen, überzogen den Kontinent fortan mit ihrer (sehr effizienten) Verwaltung – und produzierten die zu jeder Bürokratie gehörigen Papierberge. War es zuvor die Quellenarmut, so ist es nun der Papierwust, über den die Historiker klagen. Angesichts der Quellenlage, des gewaltigen Zeitraums, der zu überschauen war und der Ausdehnung des Subkontinents kann das Vorhaben einer Darstellung der gesamtindischen Geschichte – dazu noch in einem Band – nur als herkulisch bezeichnet werden. Und: die beiden Autoren haben sich wacker geschlagen. Aufbauend auf den vorherigen Auflagen, denen gegenüber kaum Erweiterungen, sondern eher Aktualisierungen vorgenommen wurden, liegt nun wieder eine bis in die Gegenwart führende, handbuchartige und auch für den interessierten Laien einigermaßen lesbare Gesamtdarstellung vor.

Hermann Kulke, der selbst aktiv in der Forschung tätig ist und Entscheidendes für die Aufdeckung des indischen Einflusses in Südostasien beigetrug, hat den quellenarmen Abschnitt bis zum Mogulreich verfasst, während der Heidelberger Emeritus Dietmar Rothermund die von Berichten, Zeugnissen und Akten geradezu überquellende Neuzeit zu bändigen hatte. Beiden ist ihr Vorhaben – bedingt durch die Menge und Disparität des Materials – aus Lesersicht zwar nicht glänzend, aber unter den bestehenden Bedingungen bestmöglich gelungen. Während Kulke die frühen Abschnitte gut gliedert und vorsichtig formuliert, fasst Rothermund stärker zusammen und langt – als gelernter Politikwissenschaftler – in seinem Urteil schon einmal kräftig zu. Vor allem den „Britishers“, den in Indien einst ebenso gefürchteten wie bewunderten und beneideten Kolonialherren, werden noch im Nachhinein kräftig die Leviten gelesen; auch für die Papierflut der kolonialen Verwaltung – für den Historiker eigentlich eine Chance – hat der Autor wenig übrig. Da Rothermund, der Altmeister der indischen Geschichtsschreibung in Deutschland, jedoch über ein stupendes Wissen verfügt, gut formuliert und immer wieder auf unbekannte Zusammenhänge und Fakten aufmerksam macht, muss man ihm diese Eigenheiten nachsehen.

Es mindert den Wert des Bandes als Standard- und Handbuchwerk nicht, wenn man für tiefergehende und in die Zukunft weisende Studien auf englischsprachige Literatur verweisen muss. R.M. Eatons A Social History of the Deccan oder André Winks Al-Hind zeigen, wie dynamisch, packend, vielseitig und überraschend wenig erforscht die Geschichte der Begegnung zwischen den Kulturen Indiens, Arabiens, Persiens, Zentralasiens und Europas immer noch ist und dass das auffällige Phänomen der Fremdherrschaft in Indien aus historischer Perspektive keineswegs nur Verlust, Bedrohung und Einengung bedeutete, sondern immer auch Bereicherung, Perspektive und Öffnung.

Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 4. überarb. u. aktual. Aufl. 128 S., mit zwei Karten. München: C.H. Beck 2018. Kt., € 9.95 (Beck Wissen Bd. 2194)

Die Liliput-Ausgabe der indischen Geschichte, die freilich die Frühzeit bis zum muslimischen Mittelalter ausspart, bietet dem Leser auf ihren 128 Seiten eine gut gegliederte und engagiert geschriebene Geschichte des Landes. Dass sie dabei aktuell, handlich, mit Register, aussagefähigen Karten, deutschsprachiger Literatur und einer Zeittafel ideal „zum in die Tasche stecken“ und zudem preiswert ist, empfiehlt sie sich jedem Leser zum Einstieg, zur Anregung und zum Vertiefen. Indisches Mittelalter und frühe Neuzeit nehmen lediglich 40 der 116 Textseiten ein, der überwiegende Teil widmet sich – zu Recht bei einem derart komprimierten Überblick – der Neuzeit mit ihren großen Themen: Nationenbildung, Teilung des Landes, außenpolitische Bündnisse und Fragen der Wirtschaftsund Sozialentwicklung. Dietmar Rothermund stellt die politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sowie die wichtigsten Protagonisten nicht nur kenntnis- und konturenreich in einen Zusammenhang, sondern weist auch immer wieder auf Situationen und personelle Konstellationen hin, durch die die Entwicklung des Landes entscheidende Impulse in der einen oder anderen Richtung erhielt und wo sich sozusagen aus dem Nichts Alternativen auftaten. Geschichte ist bekanntlich keine exakte Wissenschaft, die Naturgesetzen folgt; sie lebt von der Bewertung der Vorgänge durch die Zeitgenossen und – noch mehr – durch die Späteren. Zupackend und in seinem Urteil nicht zimperlich schlägt Rothermund dem Leser eine Schneise in den – selbst für Inder – undurchdringlich scheinenden Dschungel der historischen Fakten. Das Bändchen eignet sich nicht nur zur fachlichen Lektüre, sondern ist auch stilistisch interessant und regt zur weiteren Lektüre an.

Wer mehr wissen will, kann sich in der Bibliothek immer noch die „Indischen Geschichte in Grundzügen“ des gleichen Verfassers ausleihen, die – inzwischen leider vergriffen – sozusagen die Mitte bildet zwischen dem Beck‘schen Großband und dem hier vorgestellten „Zwerg“. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und ist Herausgeber mehrerer Bände zur indischen Geschichte. Er bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de“

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