Wunn, Ina (2018): Barbaren, Geister, Gotteskrieger. Die Evolution der Religionen – entschlüsselt. Berlin: Springer. 372 Seiten, ISBN 978-3-662-54772-4; 24,99 €
Religion ist keineswegs „tot“, sondern ein aktuelles Problemund Forschungsfeld, von Fragestellungen der Verquickung von Religion und Politik über die rezente, meist populistisch verwertete Figur sog. Religionskriege bis hin zu dem Phänomen pathologischer Religiosität. Ina Wunn, die sich seit geraumer Zeit mit dem Transfer evolutionsbiologischer Theorieansätze auf die geschichtliche Entwicklung der Religionen intensiv beschäftigt, hatte zuletzt 2015 mit „Götter – Gene – Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung“ (mit den Coautoren Patrick Urban und Constantin Klein) ein allgemeinverständlicheres Werk zum Thema vorgelegt, mit der jüngsten Publikation liegt nunmehr eine kondensierte Darstellung ihres Paradigmas vor – die allerdings in sehr großen Teilen auf ihrer Habilitationsschrift aufbaut (2002: Die Evolution der Religionen).
Dass „Barbaren“ und „Gotteskrieger“ nur als Schlagworte auf dem Titel erscheinen, aber an keiner Stelle des Werkes angesprochen werden, ist mutmaßlich dem gegenwartsbezogenen Marketing des Werkes geschuldet; der Zusatz: Die Evolution der Religionen – „entschlüsselt“ suggeriert jedoch ein abgeschlossenes Forschungsprogramm. Man darf also gespannt sein, inwieweit hier die Evolutionstheorie „liefern“ kann. Jedoch macht die Autorin bereits einführend keinen Hehl daraus, dass sie sich mit dem in den letzten Dekaden naturalistischer Religionskritik prominenten kognitionsorientierten Ansatz nicht anfreunden kann, und eher auf die klassischen Theoriefiguren des Evolutionsparadigmas setzt. Ihre These, dass die rezente Strömung der „cognitive sciences of religion“ (CSR, bspw. durch Pascal Boyer vertreten) das eigentliche Erklärungsangebot seitens der Naturwissenschaften systematisch verfehle macht deutlich, dass das vorliegende Werk auch Ergebnis einer methodologischen Kontroverse ist, und somit neben dem eigentlichen Gegenstand der Religion leider auch an vielen Stellen Grabenkämpfe markiert (einigen kognitionswissenschaftlich argumentierenden Autoren, bspw.
Matt Rossano, eine Teleologie im Sinne einer notwendigen Entstehung der Religion zu unterstellen, ist jedoch leider gleichermaßen irritierend wie unredlich). Bedauerlich ist, dass die bemerkenswerte Dynamik innerhalb der evolutionstheoretisch argumentierenden Religionskritik, insbesondere der cognitive turn, zugunsten eines ermüdenden Wiederbelebungsversuchs der Mem-Theorie nahezu obskurantistisch ausgeblendet wird: „Das in diesem Buch vorgestellte Evolutionsmodell macht derartige Ansätze obsolet.“ (S. 333)
Das Werk entwickelt in 17 Kapiteln seine Argumentation für eine Evolutionstheorie der Religion, die sich im Wesentlichen auf zwei Säulen stützen möchte, um diese schlussendlich zu verzahnen. Dies ist zunächst (in meiner Diktion: Säule 1) eine wissenschaftstheoretische Analyse der Wissenschaftsgeschichte der Evolutionstheorie. In diesem lesenswerten, im positiven Sinne sogar unterhaltsamen Teil gelingt es der Autorin, die Komplexität der Bausteine als auch deren Verknüpfung im Sinne einer modernen (postsynthetischen) Evolutionstheorie herauszuarbeiten. Insbesondere die Kontextualisierungen mit lebensweltlichen Aspekten der zentralen Protagonisten (Buffon, Linné, Malthus, Spencer, Darwin, Lamarck und die „üblichen Verdächtigen“) entwickelt in den Kapiteln 2-10 ein grundlegendes Gerüst der Evolutions theorie, die dem Leser die methodischen Bausteine vermittelt; die hierzu abgedruckten Abbildungen bleiben jedoch rein illustrativ. Das ist eigentlich Schade, denn beispielsweise die Linnéschen Systematik des Tierreichs (Abb. 3.6, S. 43) verweist mit dem Genus Homo zugeschriebenen Merkmal des nosce te ipsum auf das anthropologische Selbstbestimmungsmoment – ein klassischer Ausgangspunkt für die Suche nach Antworten auf die damit einhergehende Kontingenzerfahrung. Kapitel 11-14 sind dann Zwischenüberlegungen, die die nach wie vor kontroverse Frage nach den Einheiten der Evolution aufgreifen und das Problem der Variabilität der Arten vorstellen. Auf diesem Wege wird dann ein an den Begriff der Chrono-Spezies angelehnter Begriff der Chrono-Religionen eingeführt, der fortan Religionen als „Einheiten der Evolution“ operationalisieren soll. Für den Transfer biologischer Theorien auf kulturelle Phänomene muss naheliegenderweise noch der Vererbungsbegriff geklärt werden, der ja ohne das Gen auskommen muss und daher als Mem-Theorie ins Spiel kommt. Für Wunn gilt: „Kulturen und damit auch Religionen pflanzen sich über Kommunikationsprozesse fort. […] Während jedoch der biologische Wandel auf die Zufälle der genetischen Rekombination und auf Mutation und in einem zweiten Schritt durch die steuernden Kräfte der Selektion angewiesen ist, sind kulturelle Mutationen […] als gewollte [sic!] und zielgerichtete [sic!] Innovationen möglich“ (S. 294). Dass der Gedanke einer Natur-Kultur-Koevolution nicht einmal Erwähnung findet, ist nach diesem Zitat nicht überraschend, aus welchem Referenzrahmen die ‚kulturelle Mutation‘ ein Innovationsziel ableiten soll, geschweige denn wollen kann, bleibt rätselhaft.
Wir folgen der Autorin in die „Säule 2“: In einer kulturgeschichtlichen Abhandlung kann die Autorin ihre religionsgeschichtliche Expertise ausspielen und in den abschließenden Kapiteln, mit einem erkennbaren Schwerpunkt auf die Genese islamischer Religionen, die politischen, ideengeschichtlichen und kulturhistorischen Befunde anschaulich präsentieren – diese sind als solche lesenswert und erhellend, die vorgesehene Anwendung auf eine ‚Evolutionstheorie der Religionen‘ können jedoch nicht überzeugen, sie scheinen eher, so legen die Belegautoren und Verweise in den Kapitel nahe, einer evolutionstheoretischen Axiomatik der 90er Jahre verhaftet zu sein.
Es ist schade, dass viele Potenziale der evolutionstheoretischen Perspektive vorschnell verschenkt werden, da sich die Autorin systematisch dem kognitiven Aspekt der Religion verschließt. Dieser lässt sich allerdings bereits bei Darwin selbst finden! Aber im vorliegenden Kapitel zu „Darwin und die Evolution der Religionen“ (S. 150ff) wird dem Gründervater der Evolutionstheorie sogar vorgeworfen, sich einer Theoretisierung der Religion verschlossen zu haben, „dabei wäre ein solcher evolutionärer Ansatz zur Erklärung der Vielfalt der historischen und zeitgenössischen Religionen durchaus möglich gewesen“, S. 152. Übersehen wird dabei leider: Darwin hat in seiner „Abstammung des Menschen durch geschlechtliche Zuchtwahl“ (1871) auf den „Geisteszustand“ verwiesen, der ein „Gefühl religiöser Ergebung“ hervorbringen kann – und eine Vergleichsmöglichkeit der kognitiven Grundlagen dieses mentalen Phänomens an „Braubachs Hund“ aufgezeigt. Dieser bellte einen sich im Winde bewegenden Sonnenschirm an, der von ‚unsichtbaren Akteuren‘ bewegt wurde – diese Imagination von Geistern wurde von ihm als grundlegendes Vermögen religiöser Erfahrung gesehen. Hier hatte Darwin also gewisse mentale Vermögen von Lebewesen, von ihm sogar Vertretern außerhalb der Art Homo sapiens zugeschrieben, als Grundform religiöser Verhaltensweisen beschrieben und als Ausgangspunkt seines Ansatzes einer Evolution kognitiver Vermögen im Sinne einer evolutiven Religionsentstehung eingeführt. Schade, dass diese Zugänge systematisch ausgeschlossen werden.
Distanziert betrachtet sind die beiden Säulen des Werkes, also die wissenschaftshistorisch/wissenschaftstheoretisch entwickelte Skizze der Evolutionstheorie und die kultur- und ideengeschichtliche Analyse islamischer Religionen interessante Beiträge zu einer Versachlichung der Religionsdebatte – der Versuch einer Zusammenführung beider Säulen zu einer „entschlüsselnden“ Theorie der Evolution der Religionen bleibt jedoch mindestens unbefriedigend, in vielen Bereichen unterläuft er sogar das integrative Potenzial interdisziplinärer evolutionstheoretischer Ansätze jedweder Religionskritik und erinnert an hegemoniale Bemühungen evolutionstheoretischer Naturalisierungsprogramme, die das Kind mit dem Bade ausschütten. Wenn in den letzten Überlegungen zum Thema „Religion und Gewalt“ die Funktionalisierung der Religion heruntergebrochen wird auf „die Religion entstand aus Angst vor feindlichen Konkurrenten aus dem artspezifischen Bedürfnis, das eigene Territorium zu verteidigen“ (S. 336f) – dann sollte man diese Form der „Entschlüsselung“ kritisch überdenken. Religion in ihrer geschichtlichen Sukzession und phänomenalen Variabilität rein auf dem Wege genetischer Vererbung beschreiben zu wollen ist deutlich unter dem zeitgemäßen Leistungsspektrum evolutionstheoretischer Beiträge einer Religionskritik.
Dr. Matthias Herrgen, Anthropologe, Lehrbeauftragter für Philosophie und angewandte Ethik am Zentrum für Wissenschaftstheorie der Westfälischen Wilhelms Universität Münster und im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Darmstadt. matthias@herrgen.net