Geowissenschaften

Die Erfindung der Kontinente

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2022

Christian Grataloup, Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt. (Aus dem Französischen von Andrea Bebbou). wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)/Theiss, Darmstadt, 2021, 256 S., 140 farbige Abb. u. Karten, Bibliogr. und Reg., SU, ISBN 978-3-8062-4344-4, bis zum 01.07. 2022 € 80,00, danach € 100,00.

Das vorliegende Werk von Christian Grataloup (*1951), Emeritus für Geografie an der Universität von Paris, zeigt in einem üppig illustrierten historisch-geografischen Überblick, dass die Einteilung der Welt aufgrund kultureller Festlegungen der kontinentalen und maritimen Weltregionen eine fortlaufende »Erfindung« ist. Die „»metageografischen« Sinnschemata, anhand derer wir die Welt deuten und einteilen“ (S. 36), wurden in den Geschichts­ epochen als zeit- und zweckgebundene Konstrukte geprägt. Dennoch nehmen wir Kontinente und Ozeane seit unserer Schulzeit als naturgegebene Basiselemente der Weltgeografie wahr; sie haben sich meist tief in unserem Bewusstsein verankert.

Da die geschichtlichen Konzepte und geografischen Repräsentationen der Welt bis heute in unserem Denken nachwirken, ist die Untersuchung ihrer geohistorischen Bedingtheit kein akademisches L’art pour l’art, konstatiert der international renommierte Autor, da sich Geopolitik, d.h. raumbezogenes außenpolitisches Handeln einzelner Staaten und internationaler Wirtschaftsbündnisse (wie die EU und APEC) oder strategischer Allianzen (wie die NATO), nicht entlang »natürlicher« Gegebenheiten ausrichtet. Grataloup erklärt die »Plastizität« von Geopolitik am wirtschaftlichen und politischen Konstrukt Europäische Union und der unterschiedlichen Vorgehensweise des Europäischen Rats im Fall der Beitrittsanträge von Island, das bekanntlich direkt auf der Grenze zweier tektonischer Erdplatten liegt, und der Türkei, die mit Ostthrakien nach Europa hineinragt. Der bekannte Ausgang der Verhandlungen macht klar, weshalb der „Abschied des Denkens in Kontinenten […]“ (S. 18) längst überfällig ist. Heute nehmen wir die »Nordung« von Landkarten als selbstverständlich, aber in der Antike orientierte man aus biblischer Sicht den »Orient« bzw. Asien oben, da man im Osten das Paradies wähnte. Durch die Patristik wurde diese Ansicht als „Synthese aus Fragmenten vom Kulturerbe des Altertums“ (S. 40) auf sog. TO-Weltkarten wie der berühmten mappa mundi von Isidor von Sevilla (c. 560–636 n. Chr.) tradiert, auf der ein einziger Ozean den Erdkreis umschlingt. Nach der großen Sintflut soll Noah die Erde auf seine drei Söhne verteilt haben: Sem bekam »Asien«, Japhet »Europa« und Ham »Afrika«. Die vertikale Säule des T steht in den frühen mappae für das Mittelmeer, so dass der Ursprung der Abgrenzung der drei alten Kontinente tief zurückreicht.

Mit zunehmenden maritimen Handelsbeziehungen blühte eine Kartografie mit „stärker empirische[m] Charakter“ (S. 54) auf, doch das Dreiklassenmodell der Einteilung der Welt, das sich auch in der Symbolik der Heiligen Drei Könige wiederfindet, setzte sich im Feudalismus des indoeuropäischen Sprachraums als „eine hierarchisierende, ungleiche Sicht [fort]. Europa wird sie auf die ganze Welt projizieren“ (S. 62).

Nach der als todbringend gefürchteten Umsegelung des Kap Bojador 1434 sowie der Entdeckung Amerikas 1492 und weiterer Weltregionen erfolgte mit deren Eroberung und Kolonisation ein enormer gesellschaftlicher Umbruch, der vor allem die »Entdeckten« betraf, aber auch die Entdecker mussten eine neue Perspektive auf die Welt einnehmen. Erstaunlicherweise wurde dabei weiterhin in Erdteilen gedacht (vgl. S. 70). An kunstvoll gestalteten Weltkarten berühmter Kartografen, u.a. Martin Waldseemüller (1470– 1520), Albertino Cantino (15.–16. Jh.), Sebastian Münster (1488–1552), Heinrich Bünting (1545–1606), erklärt Grataloup die (früh-)neuzeitliche Sicht auf die Welt, bei der Europa immer im Mittelpunkt stand. Die Demarkationslinie Europas zu Asien setzte man in den Enzyklopädien des 18. Jhdt. am Ural an, was ab dem 19. Jhdt. in den Schulatlanten verstetigt wurde.

Die Ungleichwertigkeit der Erdteile spiegelte sich in den allegorischen Darstellungen des flämischen Malers Maarten de Vos (1532–1603) wider. Im Stil des nördlichen Manierismus zeigen sie Europa mit allen Insignien der Macht als Herrscherin von Krieg und Frieden, Afrika erscheint fast nackt als Hinweis auf Barbarei, Asia prunkt kostbar gekleidet, jedoch ohne Herrschaftssymbole, aber mit einem Weihrauchgefäß als Symbol religiöser Tradition, während Amerika nackt, bewaffnet, wild und grausam auftritt. Ideengeschichtlich fand sich die hierarchische Vierteilung der Welt in vier, nach der Hautfarbe unterschiedenen Menschentypen wieder, die man sich in späteren anthropologischen Typologien als »Rassen« vorstellte (vgl. S. 95f.). »Das Lob der Gleichheit der Rassen«, das eine aus dem Jahr 1798 stammende Abbildung (S. 98) mit Freimaurer-Symbolik verkündet, hatte gegen das aufkommende eurozentrische Superioritätsdenken keine Chance, wie die tragische Geschichte von Rassismus und Gewalt zeigt. Im Kapitel „Die Kunst, die Welt zu beherrschen“ (S. 100f.) wird der Leser mitgenommen auf die Spurensuche nach Erdteil-Darstellungen in Kathedralen, Kapellen, Kunsthistorischen Museen, Residenzen, Parks und auf öffentlichen Plätzen. An berühmten Deckenfresken, Gemälden, Mosaiken, Skulpturen und Porzellanfiguren wird dargelegt, wie sich die Ikonografie der Katholischen Kirche und die Allegorie der vier Kontinente mit der Kolonialisierung im 18. und 19. Jhdt. endgültig säkularisierte, wobei die Dame Europa stets den „Status einer prima inter pares“ (S. 102) einnahm.

Bereits in der Antike erwähnt Claudius Ptolemäus (ca. 100– 175) die Existenz einer Terra australis, die der flämische Kartograf Abraham Ortelius (1527–1598) auf seiner Weltkarte „Typus orbis terrarum“ festhielt. Bekanntlich konnte James Cook (1728–1779) auf seinen Entdeckungsreisen in die Südsee die Existenz eines Südkontinents widerlegen. Andere abendländische Vorstellungen – wie die von den Antipoden und dem sagenumwobenen Atlantis – hielten sich lange, was auf kartografischen Kostbarkeiten wie der Mappa mundi im Saint-Sever Beatus, einer romanischen Bilderhandschrift aus dem 11. Jhdt., oder der gesüdeten Atlantis-Karte des Jesuiten Athanasios Kirchner (1602– 1680) erkennbar ist. Mittlerweile sind diese Vorstellungen „ins Reich der Fantasie verwiesen“ (S. 154), während »Ozeanien«, ein sprachliches Paradoxon und „merkwürdiges Typonym“ (S. 130), das der Geograph Conrad MaletBrun (1709–1826) 1812 für die Gebiete Australasien und Polynesien kreierte, heute als »Restefundus« in den Malaiischen Archipel (früher Insulinde) sowie Australien und die SW-pazifischen Inseln zerfällt.

Im Gegensatz zum französischen Buchtitel erwähnt der deutsche die Ozeane nicht, aber erfreulicherweise werden die »Blauen Weiten«, die 71% der Oberfläche des Geoids bedecken, in einem üppig bebilderten Kapitel behandelt. Seit frühen Zeiten verbreiteten sich Menschen, Ideen und Waren auch auf Seewegen, aber für die landgewohnten Gesellschaften schwang bis ins Mittelalter eine unbestimmte Angst vor der Leere der Meere mit. Mit der Vermessung und Kolonisation der Welt entwickelte sich ein reger Seehandel, wodurch die Kartografie aufblühte. Grataloup beschreibt die Leistungen vorwiegend europäischen Kartografen, wie Gerardus Mercator (1512–1594), dessen winkeltreue Zylinderprojektion der Weltoberfläche die Navigation revolutionierte. Auf einer Karte der Arktis (von 1585) zeichnete Mercator eine hypothetische Meerenge zwischen Asien und Amerika, die der Seefahrer Vitus Jonassen Bering (1681–1741) im Jahr 1728 tatsächlich entdeckte. An kunstvollen Karten des berberstämmigen Gelehrten Idri al-Idrisi (ca.1100–1166) und des venezianischen Kartografen Fra Mauros (um 1385–1454) offenbaren deren nach Süden ausgerichtete Karten sehr begrenzte Kenntnisse. Die zum ausgiebigen Schmökern einladenden glanzvollen Seekarten verdeutlichen, dass die Einteilung der Meere kulturgeschichtlich ebenso wie die des Festlandes fluktuierte, „allerdings etwas später und weitaus stärker […] – wie es in der Natur der Meere liegt“ (S. 162). „Wir und die anderen“, lautet das vorletzte Kapitel, das an weltweiten Kleinoden der historischen Kartografie verdeutlicht, dass sich Menschen seit jeher über ihre Gruppenzugehörigkeit definieren und sich selbst überhöhen, während sie ihre eigenen Schwächen auf andere projizieren. An Bild-tafeln von Enzyklopädien, wie u.a. aus dem Petit Larousse illustré (von 1905) oder einer aus dem Jahr 1886 stammenden, das British Empire verherrlichenden vom Illustrator Walter Crane (1845–1915), wird die jeweilige Sicht durch die eigene Kulturbrille offenbar. Besonders deutlich wird das, wenn Grataloup eine in der akademischen Geschichtsschreibung eigentlich nicht übliche kontrafaktische Betrachtung vornimmt und eine „Geschichte der unverwirklichten Möglichkeiten“ (S. 197) durch den Vergleich der koreanischen Kangnido-Karte (15. Jhdt.) und einer nach den Berichten arabischer Reisender erstellten von alIdrisi (14. Jhdt.) skizziert. Sie demonstrieren das, was man in der modernen Geschichtsschreibung connected histories nennt. Es überrascht nicht, dass sich alle herrschenden Gesellschaften stets im Mittelpunkt wähnten, was in der Vorstellung Chinas als »Reich der Mitte« (Zhonguo) zum Ausdruck kommt, während ferne Kulturräume buchstäblich marginalisiert wurden, was Grataloup in dem ideenreichen Exkurs meisterhaft belegt und wegen der Zählebigkeit des Denkens in Kontinenten und Hierarchisierungen ein konsequentes Umdenken fordert.

Grataloups grandioser Band schließt mit einem modernen Atlas ausgefeilter thematischer Karten und einer Bibliografie „Für die Weiterreise ins Herz der Kontinente und Ozeane“ (S. 248) sowie Registern. Da sich „die Kontinente und Ozeane [selbst heute] nicht in Phantome gewandelt [haben]“ (S. 226), ist es die geopolitische Herausforderung in einer globalen Welt, sich aufgrund der Dynamik rapider Machtverschiebungen, kurzlebiger Wirtschaftsregionen und beschleunigter Migrationsströmungen endlich von obsoleten Denkkategorien zu lösen

Fazit: Behaupte jemand noch einmal, Geografie sei langweilig, uncool und überflüssig! – Grataloup beweist mit dem geohistorischen Prachtband und profunden Ausführungen das genaue Gegenteil. Das gewichtige und wichtige Buch ist ein »Fest für die Augen«, aber noch weit mehr, weil es so manche Vorurteile unseres tradierenden geistigen Kosmos entlarvt und mit populärwissenschaftlicher Leidenschaft für die Notwendigkeit einer zukunftsorientierten Sicht auf die Erde plädiert.

Der heutige (24.02.2022) Kriegsausbruch in der Ukraine ist ein ultimatives Alarmsignal für die Menschheit, endlich in biopolitisch relevanten Ordnungsmustern zu denken – Geography matters! (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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