Theologie | Religion

Die Entstehung der Bibel

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

Konrad Schmid und Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften. München: C. H. Beck, 2019. 504 S. mit 48 Abb. und 4 Karten. Gebunden. ISBN 978-3-406-73946-0. € 32,00

Mein Großvater erzählte mir aus seiner Schulzeit im Dorf Isernhagen, sechs Stunden Fußmarsch von Hannover entfernt, da hätten sie immer in so einem Buch gelesen, wie hieß das noch – Bibel.

Wie das, was Bibel heißt, zustande kam, beschreiben die Professoren Konrad Schmid, Universität Münster, und Jens Schröder, Humboldt-Universität zu Berlin, Experten für Alttestamentliche Wissenschaft und frühjüdische Religions­geschichte und für Neues Testament und neutestamentliche Apokryphen.

Schröter war mir schriftlich schon begegnet im ­Jesus Handbuch bei Mohr Siebeck 2017 (fbj 10. Jahrgang 2/2018 56-57). Dem in Berlin erarbeiteten Erschließungsapparat 2017, der auch außerbiblische und pagane Schriften erfasst, sind die Register 2018 ähnlich, sie haben jetzt sogar ein eigenes Inhaltsverzeichnis bekommen (483 zu 485-504).

Wohl seit jeher nahmen Menschen beeindruckende Erlebnisse und Erkenntnisse in ihr Gedächtnis auf und gaben sie mündlich weiter. Von nordamerikanischen Waldlandindianern erfuhr ich aus schriftlichen Quellen, dass zum Beleg Muschelperlen-Schnüre und -Gürtel angefertigt und in einem Beutel archiviert wurden; in der Ratsversammlung holte der amtierende Sprecher das eine oder andere Dokument hervor und rezitierte die von ihm memorierte Begebenheit.

Unter den Mitteln, Erinnertes unabhängig von Gedächtniskapazität zu transportieren, fand sich ein besonders leistungsfähiges: die Schrift.

Hat man erst einmal begriffen, dass es den Autoren Schmid und Schröter um Schrift geht, mag man sich ihre Verknüpfungen von Texten mit Zeitläuften gern vorführen lassen.

Kapitel „10. bis 6. Jahrhundert“ (70-142): Schrift entwickelte sich im Alten Orient während des –4. Jahrhunderts im „fruchtbaren Halbmond“ von Mesopotamien bis Ägypten. (Die Karte auf Seite 81 erweckt leider den Anschein, als gehöre das Niltal nicht dazu.) In der Levante, der Mitte des Halbmonds am östlichsten Mittelmeerufer, entdeckten die Phönizier, dass zur Verschriftlichung von Sprache etwa zwanzig Lautzeichen – ein Alphabet – reichen. Ihre südlichen Nachbarn in Israel und Juda erlernten ab dem –9. Jahrhundert in Tempel und Palast das Schreiben. Abbildungen auf den Seiten 90-96 zeigen, wie geschriebenes Hebräisch aussah. Mose, wahrscheinlich eine historische Gestalt, hat noch nicht schreiben können. Die Könige David und Salomo galten den Nachfahren als Schriftsteller.

Kapitel „6. bis 4. Jahrhundert“ (143-186): Israeliten wurden Anfang des –5. Jahrhunderts nach Mesopotamien deportiert. „Der Kontakt mit der babylonischen Gelehrsamkeit führte zu einer enormen Intellektualisierung des Literaturbetriebs.“ (150) Im babylonischen Exil begann, „was sich als ‚Religion‘ durchsetzen konnte“: das „Judentum und seine Tochterreligionen“ Christentum und Islam; sie „greifen auf einen Bestand von heiligen Schriften zurück“ (158). Zur Zeit des persischen Großreichs nach der Eroberung Babylons –539 bekam die Tora („Gesetz“) die Form eines relativ geschlossenen Textkorpus. Folgetexte diskutierten und aktualisierten es.

Kapitel „3. Jahrhundert v. Chr. bis 1. Jahrhundert n. Chr.“ (187-237):

Im östlichen Mittelmeerraum löste Alexander des Großen Eroberungszug –330 die Perserherrschaft ab. Hellenismus wurde zur prägenden Kraft. Der Legende nach übersetzten die Tora in die Verkehrssprache Griechisch je sechs Gelehrte aus Israels zwölf Stämmen, abgerundet siebzig, „Septuaginta“; dieses Wort bezeichnete später griechischsprachige Schriften auch über die Tora hinaus. Als auslegende Verkündigung der Tora wurde die Schriftengruppe Neviim („Propheten“) aufgefasst.

Kapitel „1./2. Jahrhundert“ (238-286):

Durch Jesus von Nazaret in Galiläa war das entstehende Christentum, das Nichtjuden einbezog, im Judentum verankert. Hinzukommende griechisch geschriebene Texte legten die Schriften Israels aus als vorweisend auf ihn. Die „Sprüche Salomos“ (8,22-31) wussten beim Schöpfer schon vor der Schöpfung die Weisheit; in diesem Sinn sprach der Christentumstext Johannesevangelium (1,1-3.29) vom Logos und gab zu verstehen, dass Jesus gemeint sei. (274-275) Kapitel „1. bis 4. Jahrhundert“ (287-356): Etwa zwischen 50 und 150 wurden an und in Christengemeinden Texte geschrieben und einzeln oder in kleinen Zusammenstellungen überliefert. Es waren hauptsächlich Briefe, verfasst vom Paulus und anderen, und Leben-JesuErzählungen, die ihren Gattungsbegriff Evangelium („gute Botschaft“) im 2. Jahrhundert bekamen. Briefe wurden abgeschrieben und unter Gemeinden ausgetauscht. Im 2. oder 3. Jahrhundert wird der Schriftenbesitz – in Gestalt von Kodizes aus aufeinandergelegten Einzelblättern, billiger und praktischer als Schriftrollen (24-25) – von Gemeinde zu Gemeinde verschieden gewesen sein. Die christliche Bibel formierte sich erst nach und nach.

Im Fach Literaturwissenschaft lernte ich, unter Betrachtern von Texten spiele sich im Laufe der Zeit ein Qualitätsurteil ein – das sei dem Menschheitsgeschmack zuzutrauen –, so dass bestimmte Texte als klassische Literatur eingestuft würden. Ähnlich ging es offenbar im Falle der Bibel zu. Die Erwartung kam auf, ein Text müsse „kanonisch“ sein (63-69). Das Wort kanôn erscheint in Paulusbriefen (2Korinther 10,15; Galater 6,6). Es bedeutet etwas so Gerades wie eine gestraffte Schnur. Das Qualitätsurteil, das sich einspielte, meinte wohl: eine Schrift, die Leitschnur für gerade Wege ist. Bei der Auflistung kanonischer Texte gerieten benachbarte frühchristliche Schriften als „apokryph“ aus dem Blick.

Man einigte sich darauf, dass in die Bibel gehören sollten: die Evangelien in viererlei Gestalt, die Apostelbriefe und die Apostelgeschichte, eine Apokalypse („Enthüllung“ des Endes, 189) sowie die Überlieferung Israels – „Gesetz und Propheten“ – nach der Septuaginta-Übersetzung. Im 4. Jahrhundert wurden „Vollbibeln“ hergestellt, Prachtbände – die römischen Kaiser hatten das Christentum zur Religion ihres Reiches erhoben.

Kapitel „1. bis 6. Jahrhundert“ (356-376): In den Kriegszeiten, in denen die Römer ihre Herrschaft gegen die Juden durchsetzten – die Zerstörung Jerusalems und des Tempels geschah im Jahre 70 –, entwickelte sich parallel zum Christentum das rabbinische Judentum.

Es kehrte zu den hebräischen Schriften zurück (224). Im 1. Jahrhundert wurden Texte wie die Psalmen-Dichtung König Davids als eigenes Korpus Ketuvim neben dem Gesetz (Tora) und den Propheten (Neviim) zur dreifaltigen jüdischen Bibel vereint, TaNaK (32). Das Judentum traute Äußerungen auch im Diskurs unterschiedlicher menschlicher Auffassungen zu, Wort Gottes zu sein, „mündliche Tora“ (386). Lehrmeinungen, gesammelt und verschriftlicht, ergaben den Talmud, dessen Redigierung erst endete, nachdem im 7. Jahrhundert der Islam entstanden war. Am Ende der Antike lag der Schriftenbestand, der die Bibel ausmachen sollte, einigermaßen einheitlich vor. Die Übersetzung ins Lateinische, die Vulgata, wurde zur Zeit der Reformationen des 16. Jahrhunderts für den Gebrauch in der römisch-katholischen Kirche als maßgeblich erklärt (378); zugleich machte die Erfindung des Buchdrucks die Bibel in Landessprachen zugänglich (392). Die Meinung, dass Wort Gottes eigentlich nur in einer Sprache lautet, auf Arabisch, vertritt der Islam (380).

Seit den 1860er Jahren, als in einer lutherischen Landeskirche im Dorfschulunterricht Landarbeiter- und Bauernkinder zum Lesen in einem bestimmten Buch angeleitet wurden – und, im Falle meines Großvaters, dieses Buch nur vage in Erinnerung blieb –, sind Bibelexemplare massenhaft produziert worden. Im 21. Jahrhundert ist etwa 5,4-milliardenhaft für 71 % der Weltbevölkerung die Bibel in ihrer Muttersprache vorhanden. (377-378)

Schmidt und Schröter betrachten die Bibel als ein Buchstaben-, also Sprachlautzeichen-Gebilde, das als solches bloß besagt, wie man aussprechen soll. Jetzt ausgesprochenes Wort – Logos – lässt sich zurückbefragen bis in die Zeit, in der es ursprünglich gehört wurde. „Historischkritisch“ Wissbares kann „weder den jüdischen noch den christlichen Glauben begründen“, doch das Wissen um die Umstände, unter denen ein biblischer Text entstand, kann „Vorurteile abzubauen“ helfen (402-403). Vorgeblich sicher gewusstes Urteil ‚nur das ist wahr‘ in Frage zu stellen tut der Verständigung unter Menschen gewiss gut. ‚Glauben‘ wecken als Gewissheit ‚das ist wahr‘ kann die Begegnung mit Wort Gottes möglicherweise schon. (it)

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