Landeskunde

Die Biographie einer eigenwilligen Japanerin

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

Amy Stanley: Tsunenos Reise. Eine moderne Frau im Japan des 19. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl. Rowohlt Hamburg, 2021, Hardcover, 411 S., ISBN 978-3-498-07404-3, € 26,00.

Die „Große Schule für Frauen“, ein Lehrbuch für die Frauen aus den höheren Schichten der Gesellschaft, hatte im Japan der Edo-Zeit (1603–1867) sehr genaue Vorstellungen darüber, wie sich eine Frau zu verhalten habe: „Die einzigen Eigenschaften, die einer Frau wohl anstehen“, hieß es dort an einer Stelle, „sind sanfter Gehorsam, Keuschheit, ein mitfühlendes Herz und Stille.“ (S. 46). Dem wollte die im Jahre 1804 in einen priesterlichen Haushalt hinein geborene Tsuneno schon in jungen Jahren nicht mehr folgen. Ihren außergewöhnlichen Lebensweg zeichnet die amerikanische Historikerin Amy Stanley in einem ebenso außergewöhnlichen Buch nach. Zwar ist die „erzählende Geschichtswissenschaft“ seit den 1970er Jahren mit dem Aufkommen einer modernen Sozialgeschichte aus der Mode gekommen, doch der Autorin gelingt es, Biographie, Gesellschaftsgeschichte und politische Geschichte in einem lebendig geschriebenen Buch miteinander zu verschränken. Im Zentrum steht Tsuneno, die „Heldin“ der Geschichte. Sie stammt aus der Provinz Echigo am Japanischen Meer und und wächst dort in der Geborgenheit einer Großfamilie auf. Im Alter von 12 Jahren wird sie verheiratet und zieht zu ihrem Mann, der aus einer befreundeten Priesterfamilie im hohen Norden Japans stammt. Gemäß der japanischen Sitte zu jener Zeit färbt sie sich als verheiratete Frau die Zähne schwarz. Die Ehe hält einige Jahre und wird dann 1831 geschieden, wie auch die beiden folgenden Ehen. Dies war für die damalige Zeit nicht untypisch. Die Scheidungsrate war, entgegen allgemeiner Vorstellungen über die stabile soziale Ordnung unter den TokugawaShˉogunen, relativ hoch. Tsuneno nimmt ihr Glück (und Unglück) schließlich selbst in die Hand und reist nach Edo (dem späteren Tˉoky ˉo), der pulsierenden Regierungszentrale des Sh ˉogunats, damals eine der größten Städte der Welt. Hier schlägt sie sich als Dienstmädchen in den Haushalten hochgestellter Samurai und Schauspieler durch. Zu ihrer Familie hält sie Kontakt, doch sind die Beziehungen zu den Eltern und Brüdern von Spannungen geprägt, weil man ihren eigenwilligen Lebensstil und ihre Scheidungen nicht goutiert. In den Residenzen eines Fürsten und des mächtigen Stadtmagistrats wird Tsuneno Zeugin der politischen Umbrüche, die nach ihrem Tod im Jahr 1853 zum Niedergang des ­Sh ˉogunats und 1868 zur ­MeijiRestauration führen sollten.

Der Verf. gelingt es gut, den Lebensweg Tsunenos vom Land in die Metropole mit einer Analyse der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung Japans in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verknüpfen. Das Leben auf dem Land ist von zahlreichen Entbehrungen geprägt. Die Bewohner sind in der Regel ärmere Bauern und Pächter. Nur wenige von ihnen kommen zu Wohlstand. Diesen gelingt es, Manufakturen und kleingewerbliche Betriebe aufzubauen, die Textilien und landwirtschaftliche Produkte weiterverarbeiten. Die Modernisierung der Agrarwirtschaft setzte also bereits vor der Restauration ein. Wie modern und dynamisch die Epoche war, wird noch plastischer sichtbar in den Beschreibungen der Stadtviertel von Edo, in denen die Protagonistin des Buchs lebt. Die Leser des Buchs lernen viel über das städtische Kleingewerbe und den Niedergang der Samurai, über die Esskultur, die Mode, die Badehäuser und über das Leben und die Arbeit der einfachen Leute in der Stadt. In diesen Passagen gelingt die Verschmelzung von biographischer Mikrohistorie und Gesellschaftsgeschichte besonders gut.

Unvermittelter bleibt demgegenüber die Biographie Tsunenos mit den politischen Entwicklungen. Das muss man nicht unbedingt der Verf. anlasten. Denn vom stärker werdenden Zugriff des Westens auf Asien und Japan, vom Opiumkrieg oder dem Kampf Japans gegen die Fremden bekommt Tsuneno nicht viel mit. Die Ankunft der „Schwarzen Schiffe“ Commodore Perrys im Sommer 1853 erlebt sie nicht mehr; sie stirbt im Mai desselben Jahres nach monatelanger Krankheit.

Amy Stanley schreibt die Geschichte Tsunenos auf der Basis von Quellen, die ausländische Historiker bislang nur selten ausgewertet haben. Sie hat die Briefe Tsunenos an die Familie, offizielle Dokumente der Familie und Register des Tempels, die sich heute im Stadtarchiv von Niigata befinden, neu für uns entdeckt. Nicht immer bieten diese persönlichen Quellen hinreichende Informationen für die stadtgeschichtlichen oder politischen Entwicklungen an; in den Abschnitten, in denen sich die Biographie Tsunenos mit der allgemeinen Geschichte nicht berührt, muss sich die Verf. immer wieder mit Vermutungen begnügen. Das aber schmälert die Lektüre dieses bemerkenswerten Buchs keineswegs. (wsch)

Wolfgang Schwentker (wsch) ist Professor em. für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität ˉOsaka und Mitherausgeber der Neuen Fischer Weltgeschichte.

schwentker@hus.osaka-u.ac.jp

 

 

Heike Bentheimer, Picardie, Berlin: Trescher Verlag, 1. Auflage 2021, 364 S., 214 Fotos und historische Abb., 23 Stadtpläne, Übersichtskarten und Grundrisse, Klappkarten, ISBN 978–3–89794–552-4, € 18,95.

Bislang tauchten Reisetipps für die Picardie nur in Reiseführern über ganz Nordfrankreich auf. Jetzt widmet der Trescher Verlag der Region endlich einen eigenen, mit 364 Seiten auch gewichtigen Reiseführer und macht darin ausführlich mit den Kultur- und Naturschätzen der Region bekannt. Dass die Picardie bisher zu den weniger bekannten Urlaubszielen in Frankreich gehörte, hat mich immer gewundert, wo diese Region doch mit so vielen Sehenswürdigkeiten und Naturschönheiten aufwartet – und auch Aktivurlauber beim Radfahren, Reiten, Strandsegeln oder Kitesurfen auf ihre Kosten kommen. Kulturell betrachtet ist die Picardie eine wahre Fundgrube. Hier gibt es die beeindruckendsten und größten Kathedralen Frankreichs. Die Kathedrale Notre-Dame in Amiens sowie einige Belfriede zählen sogar zum Welterbe der UNESCO. Unbedingt besuchen sollte man die prunkvollen Schlösser von Chantilly und Compiègne sowie die malerischen Städte Senlis und Laon. In der Region wird man immer wieder auch mit der jüngeren Geschichte konfrontiert, zahllose Kriegsgräberfriedhöfe, überwiegend aus dem Ersten Weltkrieg, geben davon trauriges Zeugnis.

Zu den landschaftlichen Höhepunkten gehört die Somme-Bucht mit ihrer magischen, amphibischen Landschaft, in der Himmel, Wasser und Land ineinander übergehen. Dort gibt es schöne Strände – und große Robbenkolonien. Also, nichts wie hin: Binv’nue chés les chtis! (red)

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