Landeskunde

Deutschland und Russland

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

 

 

Deutschland – Russland. Stationen gemeinsamer Geschichte, Orte der Erinnerung, hg. von Helmut Altrichter, Wiktor Ischtschenko, Horst Möller und Alexander Tschubarjan im Auftrag der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, 3 Bde., Berlin: De Gruyter/Oldenburg 2014-2020, 410 S., 398 S. und 352 S., zahlreiche Abb., Bd. I: ISBN 978-3-11034871-2, € 30,95 Bd. II: ISBN 978-3-11-035035-7, € 29,95. Bd. III: ISBN 978-3-486-75524-4, € 29,95.

Als die Beziehungen zwischen den beiden Ländern noch besser waren, so um die Mitte der 1990er Jahre, beschlossen der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der frühere russische Präsident Boris Jelzin die Gründung der im Titel genannten „Gemeinsamen Kommission“, deren aktuelle und ehemalige Mitglieder auf der entsprechenden Webseite genannt sind. Eines der damals begonnenen Projekte ist diese seit dem vergangenen Jahr abgeschlossene dreibändige Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Sie erschien nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern zunächst wurde 2014 der Band zum 20. Jahrhundert publiziert, es folgte 2018 das 18., bevor schließlich 2020 auch der letzte Band zum 19. Jahrhundert erschien. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Die Bände, die jeweils eigene Herausgeber haben, richten sich, wie es im Vorwort heißt, „nicht nur an Fachhistoriker“, sondern zugleich an eine breite Öffentlichkeit und ähneln Lehr- oder Schulbüchern für die gymnasiale Oberstufe. Es gibt sehr viele Bilder, Quellentexte, für deren Lektüre eine Lupe empfohlen wird, und am Ende jedes Kapitels teils ausgesprochen ­eklektische ­Literaturhinweise auf deutsche, englische und russische Publikationen zum Thema. Dabei wird manchmal, aber nicht durchgängig, auch auf deutsche Übersetzungen verwiesen. Die Wiedergabe der Kyrillica erfolgt in der unseligen phonetischen Dudentranskription, obgleich doch mittlerweile überall die Transliteration durch Sonderzeichen, wie sie Tschechen, Slowaken und Kroaten benutzen, problemlos möglich ist. Man muss nur anfangs kurz erklären, welchen Lautwert diese Buchstaben haben.

Eingangs findet sich in den beiden Bänden zum 18. und 19. Jahrhundert ein unfassbar falscher Hinweis auf die Datierung russischer Ereignisse. Verwiesen wird dabei auf die „Februarrevolution 1918“, die es nicht gegeben hat. Es kann sich also nur um die Februarrevolution 1917 handeln. Doch die Kalenderänderung von dem in Russland gültigen Julianischen Kalender zu dem im übrigen ­Europa benutzten Gregorianischen Kalender trat tatsächlich erst, verordnet von den Bol’ševiki nach der siegreichen Oktoberrevolution 1917, zum 1./14. Februar 1918 in Kraft. Die Differenz betrug im 20. Jahrhundert 13 Tage. Zur besseren Orientierung der Leser ist jeder Artikel einem Sachgebiet und jedem Sachgebiet eine Farbe zugewiesen: blau für die deutsche, rot für die russische/sowjetische Geschichte, gelb für Internationales und grün für Gesellschaft und Kultur. Die Artikel wurden im Prinzip von einem/r deutschen und russischen Historiker/in gemeinsam geschrieben. Wenn sie sich nicht einigen konnten, gibt es zwei Beiträge. In der Einleitung findet sich dazu die nette Formulierung, man sei „thematisch und methodisch pluralistisch“ verfahren. Vergeblich gesucht habe ich übrigens die im Obertitel angesprochenen gemeinsamen „Orte der Erinnerung“.

Einigen konnte man sich ganz offensichtlich nicht darauf, was denn „ein Jahrhundert“ ausmacht, also wann es unter geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten beginnt und wann es endet. In der westlichen Historiographie geht man inzwischen von „langen“ und „kurzen“ Jahrhunderten aus, wie dies der britische Historiker Eric J. Hobs ­ bawm, der allgemein als Marxist gilt, seit den 1960er Jahren entwickelt hat. So ist das 19. Jahrhundert lang, denn es begann 1789 mit der Französischen Revolution und endete 1914 mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. In dieser Reihe beginnt das 19. Jahrhundert jedoch erst mit dem Wiener Kongress 1814/15 und endet mit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918. Das mag in einem isolierten russischen Kontext durchaus sinnvoll sein, denn die Französische Revolution von 1789 spielte im Russischen Reich nur als „Schreckgespenst“ eine Rolle, während die Russischen Revolutionen des Jahres 1917, insbesondere die Oktoberrevolution, eine „neue Zeit“ begründeten. Im Vergleich erscheint es mir problematisch. Bei den beiden zuerst erschienenen Bänden zum 20. und zum 18. Jahrhundert fällt auf, dass Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft eine eher untergeordnete Rolle spielen. Sie sind Randerscheinungen der politischen Verhältnisse. Gerade der Band zum 20. Jahrhundert zeigt in aller Deutlichkeit die unterschiedlichen Ansätze und Beurteilungen durch deutsche und russische Historiker/innen, denn es gibt kaum einen Beitrag, der von beiden Seiten gemeinsam verfasst wurde, noch nicht einmal zum Thema der beiden Pavillons auf der „kleinen“ Pariser Weltausstellung 1937 gelang ein gemeinsamer Artikel. Und während es einen Beitrag über die Olympischen Spiele 1980 in Moskau gibt, fehlt ein Aufsatz über die Spiele 1972 in München oder die Fußballweltmeisterschaft 1974. Der Band für’s 20. Jahrhundert endet im November 1990 mit der Unterzeichnung der „Charta für ein neues Europa“ durch die Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten und dem Satz: „Der Ost-West-Konflikt war endgültig beendet.“ Oder: Wie man sich irren kann!

Beim Band zum 18. Jahrhundert fällt zunächst auf, dass die „Aufklärung“ kaum behandelt wird, und Kultur und Wissenschaft allerhöchstens ein Schattendasein fristen. Die Religion, in jener Zeit doch eines der prägenden, wenn nicht das prägende Element des Lebens für die Bevölkerung des Landes unter Einschluss von Herrscher/innen und Oberschicht existiert nur in einem Unterabschnitt zu den Nikonschen Reformen um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Bemerkungen zu Rolle und Funktion des asiatischen Teils Russlands sucht man vergebens, die Zeit vom Tode Peters  I. 1725 bis zum Tode seiner Tochter Elisabeth 1761/62 wird auf noch nicht einmal sechs Seiten abgehandelt. Von deutscher Seite fungiert der Mainzer Historiker Claus Scharf weitgehend als Alleinunterhalter. Das ist – gelinde gesagt – enttäuschend.

Lesenswert und in mancherlei Hinsicht durchaus beachtlich ist hingegen der im vergangenen Jahr erschienene zweite Band zum 19. Jahrhundert. Zwar fehlt auch hier die Funktion und Bedeutung der Religion vollkommen, aber es gibt eine ganze Reihe von Artikeln über Kultur, Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft durch fachlich hervorragend ausgewiesene Autoren/innen. Rudolf A. Mark behandelt die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen und den Technologietransfer. Roland Cvetkovski und Ljudmila Sadowa beschäftigen sich mit Wassily Kandinsky und dem „Blauen Reiter“ sowie mit dem „Silbernen Zeitalter“ der russischen Kultur und dessen Auswirkungen auf Deutschland. Aufschlussreich auch der Beitrag von Jurij Petrov und Matthias Uhl über die deutsch-russischen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen im Laufe des 19. Jahrhunderts, etwa die Rolle, die das Haus Siemens seit den späten 1840er Jahren in Russland spielte. Ein Ärgernis bleiben auch in diesem Band die Literaturhinweise. Am Ende des ansonsten lobenswerten Vergleichs des Urbanisierungsprozesses im 19. Jahrhundert anhand der Beispiele Berlin und St. Petersburg wird für die russische Hauptstadt nur russischsprachige Literatur genannt.

Für den deutschsprachigen Leser wäre schon der Hinweis auf Jan Kusbers „Kleine Geschichte St. Petersburgs“ mehr als hilfreich gewesen. Unverständlich ist es auch, wenn ein Auszug aus dem Text Max Webers zur russischen Revolution 1905/06 nicht nach der seit nunmehr rund 30 Jahren vorliegenden historisch-kritischen Edition von Webers Werken zitiert wird, sondern nach der gekürzten und fehlerhaften Ausgabe von Johannes Winckelmann aus dem Jahr 1958. Und der Kommentar dieser Quelle von Jan Kusber und Jurij Petrov ist darüber hinaus unzutreffend. Zum einen meinte Weber mit dem Begriff „Scheinkonstitutionalismus“, den er für die neue russische Verfassung vom April 1906 prägte, zugleich auch die deutschen Verfassungsverhältnisse. Er schlug den Sack, meinte aber auch den Esel. Zum anderen ist der Begriff keine Weber’sche Erfindung, sondern er stammt aus der Verfassungsdiskussion des deutschen Vormärz und findet sich dem Sinne nach bei den Verfassungsrechtlern Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker. Er bezieht sich auf das einseitige Oktroi einer Verfassung in mehreren Staaten des Deutschen Bundes vor 1848, die von den Herrschern erlassen wurden, denen aber weder ein Parlament noch das Staatsvolk zugestimmt hatten. Gleiches galt für das erwähnte russische Staatsgrundgesetz. An dieser Stelle mag der Hinweis hilfreich sein, dass Weber, der als einer der Begründer der Soziologie als Wissenschaft gilt, von Hause aus aber promovierter und habilitierter Jurist war. Ausgangspunkt seiner intensiven Beschäftigung mit Russland seit 1905 war übrigens der Entwurf einer Verfassung des Russischen Reiches aus den Reihen des linksliberalen „Befreiungsbundes“ (Sojuz Osvoboždenija).

Jedem der drei Bände im Hochglanzdruck, für die es auch ein russisches Pendant gibt, ist eine umfangreiche Zeittafel, ein Personen- und Ortsregister sowie ein Verzeichnis der „Autoren, Herausgeber und Mitarbeiter“, beigegeben. Das Vorwort der beiden Hauptherausgeber der drei Bände zum Band über das 19. Jahrhundert schließt mit dem von Friedrich Nicolai 1806 überlieferten Satz: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor.“ Um der weiteren Aufklärung den Weg zu erhellen, ist das Licht dieser drei Bände leider viel zu schwach. Darüber können auch gelegentlich sprühende Funken nicht hinwegtäuschen. (dd)

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung