Landeskunde

Der „Eherne Reiter“ und ein „Fenster nach Europa“

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

Marianna Butenschön, St. Petersburg. Stimmen zur Stadtgeschichte, Hamburg: Osburg-Verlag 202, 481 S., zahlreiche Abb., geb. m. Schutzumschlag, ISBN 978-3-95510-240-1, € 28,00.

    Nach London und Moskau und vor Paris war St. Petersburg die dritte europäische Metropole, die ich ein paar Monate vor meinem Abitur im April 1968 kennenlernte. Die Stadt gefiel mir auf den ersten Blick trotz oder vielleicht wegen ihres offensichtlichen Verfalls. Ihre einstige Schönheit war unübersehbar, ebenso wie der eklatante Unterschied zur Hauptstadt Moskau in fast allen Bereichen sofort zu spüren war. Die Menschen waren offener im Gespräch, zeigten größeres Interesse am außersowjetischen Weltgeschehen und hatten immer noch einen Hang zum gepflegten Äußeren. Die erste Frage der Bedienung im Hotelrestaurant galt den Schnittmustern aus den Burda-Modejournalen, die offensichtlich allgemein bekannt waren. Die deutsch-britisch-amerikanisch-kanadische Studierendengruppe wohnte im ehemaligen und heutigen Luxushotel Grand Hotel Europe am Nevskij Prospekt, einige von uns auf der „Beletage“. Trotz des abgeblätterten Putzes und löchriger Teppiche war der Glanz vergangener Jahrzehnte überall zu sehen. Erst einige Jahrzehnte später habe ich mich in freudiger Rückerinnerung damit beschäftigt, wer denn dort alles genächtigt hatte. Die Stadt habe ich in sowjetischen Zeiten noch zweimal besucht, aber nie mehr im Grand Hotel gewohnt, auch nicht in der postsowjetischen Zeit. Die Stadt Peters des Großen, 1703 gegründet und 1712 zur Hauptstadt gemacht, ist, so empfand ich es damals und heute immer noch, ein Ensemble städte­ baulicher Schönheit. Sankt-Piterburch, wie Peter sie zunächst auf Niederländisch nach seinem Schutz- und Namenspatron benannte, war zwar geplant, wuchs aber doch gegen alle Pläne auf ihre eigene Art und Weise. Nach diesem alten Städtenamen sprechen die „echten“ Petersburger nur von „Piter“, wenn sie über ihre Stadt sprechen. Das galt auch in jenen Zeiten von 1914 bis 1924, als die Stadt Petrograd und von 1924 bis 1991 als die Stadt Leningrad hieß. Für viele, nicht nur Russen, ist sie gänzlich unrussisch, was durchaus zutrifft, für sehr viele andere „Russlands Fenster nach Europa“. All das sind die landläufigen Klischees, die dennoch immer einen Kern von Wahrheit und Wirklichkeit in sich haben.

    Marianna Butenschön, die Herausgeberin, war oder ist noch immer Journalistin und Autorin sowie promovierte Osteuropahistorikerin und eine profunde Kennerin von Land und Leuten und deren Geschichte. In einer konzisen Einleitung schildert sie die Geschichte der Stadt, ihrer Einwohner und ihrer Besucher von der Gründung bis in die Gegenwart. Danach folgen 14 Kapitel mit den „Stimmen zur Stadtgeschichte“ im Verlauf von 300 Jahren. Kaum ein Thema fehlt: die Umbenennungen 1914 und 1924, der Statusverlust, der Terror, die Blockade und die Nachkriegsjahre.

    Ein wenig zu kurz kommt, salopp gesagt, das normale Leben in den Wohnungen, auf den Straßen, in Restaurants oder im Hafen, der übrigens gerne vergessen wird. Vermisst habe ich auch ein paar Stimmen zum durchaus kosmopolitischen Charakter der Stadt, den Marianna Butenschön in ihrer Einleitung, vor allem mit Verweis auf die zahlreichen Deutschen, die in der Stadt lebten, durchaus anreißt.

    Insgesamt ist es ein ausgesprochen vielstimmiger Chor bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten, wobei die schreibende Zunft deutlich in der Mehrheit ist, was kaum verwundern wird. Politiker und Wissenschaftler kommen kaum zu Wort, Unternehmer und Kaufleute, die die Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches häufiger besuchten, bleiben – mit Ausnahme von Heinrich Schliemann – außen vor. Obwohl doch Reinhard Mannesmann gerne im schon erwähnten Grand Hotel Europe – das Zimmer kostete 1898 4,50 Goldrubel – logierte und die Stadt mochte, in der er sich des Öfteren geschäftlich aufhielt, bevor er zur Bärenjagd in den Norden aufbrach. Auch Carl von Siemens, immerhin von Nikolaj II. 1895 in den erblichen Adelsstand erhoben, fehlt leider.

    Am Ende gibt es eine umfangreiche und meist sehr informative Biobibliographie aller Autoren/innen, eine eher eklektische Bibliographie von noch nicht einmal vier Seiten, ein wiederum informatives Personenverzeichnis und ein nicht immer stimmiges Glossar, das bisweilen nicht auf dem neuesten Stand der Forschung ist. Dies bezieht sich beispielsweise auf die Ausführungen über die Sozialrevolutionäre, eigentlich Sozialisten-Revolutionäre, die keineswegs nur „Bauerninteressen“ vertraten, sondern auch die Interessen der Arbeiterschaft. Zudem wäre der Hinweis angebracht, dass V. I. Lenin das Agrarprogramm dieser Partei schlicht und ergreifend abgekupfert hat, weil seine Partei in dieser Hinsicht nichts Gescheites zu bieten hatte. Zu begrüßen ist auch die Zeittafel am Ende des Buches. Im Vor- und Nachsatz finden sich ein Stadtplan Petersburgs aus dem Jahr 1897 und eine Umgebungskarte von 1895. Die Wiedergabe der Abbildungen ist qualitativ nicht immer überzeugend; bei den Bildunterschriften hat sich bisweilen der Fehlerteufel eingeschlichen: Der Heuplatz ist der Heumarkt (S. 150). Irritierend ist für mich immer wieder die Benutzung der phonetischen Transkription für die Kyrillica aus „Gründen der Verständlichkeit“, um die sich die EU-Mitglieder Tschechien und Slowakei einfach nicht kümmern, sondern weiterhin ihre Häkchen auf einige Buchstaben setzen, und auch die Polen bleiben bei ihren Punkten und Strichen auf den lateinischen Buchstaben. Warum immer noch das bolschevikische Kampfadjektiv „zaristisch“ statt des korrekten Adjektivs „zarisch“ (S. 19) gebraucht wird, ist unerklärlich; besonders amüsant finde ich immer den „zaristischen Doppeladler“.

    In der Bibliographie fehlt der Verweis auf eine der gängigen Biografien Peters des Großen, doch immerhin der Stadtgründer. Edvard Radzinskijs Biografien von Alexander II. und Nikolaj II. sind nicht nur auf Russisch, sondern auch in einer englischen (Alexander II.) und deutschen (Nikolaj II.) Übersetzung erschienen. Dies gilt auch für Solomon Volkovs unbedingt lesenswerte Kulturgeschichte Petersburgs, die schon seit 1995 in einer englischen Übersetzung vorliegt. Unzutreffend ist zudem der Hinweis darauf, dass Herkunft, Lebensdaten und Lebensweg des hannoverschen Diplomaten Friedrich Christian Weber „nahezu unbekannt“ seien (S. 421). Verwiesen wird in der Biobibliografie nur auf das Digitalisat seines zeitgenössischen Buches über Russland unter Peter I., jedoch nicht auf die Studien über ihn von Eckhard Matthes aus den 1980er Jahren bzw. von Martin Klonowski „Im Dienst des Hauses Hannover“ von 2005. Wie üblich also: ein gründliches Lektorat hätte dem Werk sicherlich nicht geschadet. Dennoch kann ich das Buch zur Lektüre oder als Geschenk nur empfehlen, denn es ist vielschichtig, gut lesbar und in jeder Hinsicht anregend. (dd)

    Prof. em. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), von 1996 bis 2015 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkte: Russische ­Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts- und Sportgeschichte sowie Migration.

    ddahlman@gmx.de

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