Geschichte

Der 9. November

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

Wolfgang Niess, Der 9. November. Die Deutschen und ihre Schicksalstag. C. H. Beck, München. 2021, 318 S., geb., ISBN 978-3-406-77731-8, € 26,00.

    16 Abschnitte weist das Buch von Wolfgang Niess, „lange Jahre Redakteur beim SWR Fernsehen“ (Einbandklappe III, Näheres dort), auf. Unmittelbar diesem Datum gewidmet sind in seinem Werk der Abschnitt 2 „Die Novemberrevolution 1918“ (S. 12-45), Abschnitt 4 „Der ‚Hitlerputsch‘“ (S. 58-87), Abschnitt 7 „Der ‚Novemberpogrom 1938‘“ (S. 110-139), Abschnitt 13 ‚Der „Mauersturz 1989‘“ (S. 207-236). Jeweils war es also ein 9. November, der aufgrund eines Ereignisses mit Symbolkraft eine Zäsur markierte. (Anmerkung des Rezensenten: Dass Niess das völlig ungeeignete, nachgerade hämischhöhnisch wirkende, leider immer noch gebräuchliche „Reichskristallnacht“ [auch nicht besser: Kristallnacht] durch das dem Russischen entstammende „Pogrom“ ersetzt, ist dem tatsächlichen Geschehen allein angemessen, denn es ging konkret, und historisch keineswegs zum ersten Mal, um nicht weniger als mit Plünderungen und Gewalttaten verbundene Ausschreitungen gegen Juden in Deutschland.)

    Der Autor erinnert auch an den 9.11.1939, der von Hitler als „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ (1923) vorgesehen war und der den „nur halboffiziellen Reichstrauertag der NSDAP“ ablösen sollte (warum dieser Plan nicht vollzogen wurde, ist seit 140 f. zu lesen). Stattdessen sollte unter anderem am 8./9.11.1939 ein „Treffen der Marschierer des 8./9. November 1923“ im Münchener Bürgerbräukeller stattfinden, wo auch eine Rede Hitlers geplant war und am 8.11. stattgefunden hatte. Sodann wendet Niess sich, sehr zu „Recht“, ausführlich Georg Elser zu (S. 145-154), dessen selbstgebaute Bombe um 21:20 Uhr detonierte, aber eben „genau 13 Minuten nachdem Hitler den Saal verlassen hatte“ (S. 143).

    Das Buch ist ungemein „dicht“ geschrieben, die Fülle der akribisch geschilderten Details ist in einer Rezension nicht ansatzweise darstellbar. Bis in die Einzelheiten hinein hat der Autor seine Recherchen betrieben und damit den Untertitel bestens begründet. Die zahlreichen Fotos ergänzen und befestigen das Beschriebene. Hingewiesen sei besonders noch auf die Abschnitte 11 und 12: „Der 9. November in der Geschichtskultur der Bundesrepublik“ (S. 178 ff.) und „Der 9. November in der Geschichtskultur der DDR“ (S. 196 ff.) sowie – insbesondere für die (hoffentlich zahlreichen) jüngeren Leserinnen und Leser auf die Abschnitte 13 („Der Mauersturz 1989“, S. 207 ff.) und 15 („Der 9. November in der Geschichtskultur des vereinten Deutschlands“, S. 243ff.), in denen Niess an die damaligen Ängste in den jüdischen Gemeinden erinnert, an die wieder aufgekommene Ausländerfeindlichkeit und den sehr unterschiedlichen Umgang damit in der öffentlichen Diskussion (dazu S. 243 ff.). Dieser Abschnitt bindet eindrucksvoll das zusammen, was für Niess den wesentlichen Ertrag des Themas seines Werks bildet.

    Die Akribie des Autors zeigt sich auch an den Anmerkungen, dem beeindruckenden Literaturverzeichnis sowie dem Personenregister.

    Nachwort: Wenn er allerdings meint, der von A. Gallus 2010 herausgegebene Band „Die vergessene Revolution von 1918/19“ sei „seit langer Zeit das erste wissenschaftliche Werk, das sich mit Fragen der Novemberrevolu­tion beschäftigte“ (S. 256), so schätzt er – offenbar – Sebastian Haffners „Die deutsche Revolution 1918/19. Wie war es wirklich? Ein Beitrag zur deutschen Geschichte“, 1969/1979 mit einem Nachwort zur Neuausgabe S. 220223, nicht als ein solches ein, worüber man gewiss streiten kann. – Der 9. November hat auch schon 1848 in Preußen (wie auch in Wien) eine beträchtliche Bedeutung erlangt: An diesem Tag ordnete nämlich der preußische Ministerpräsident Graf Brandenburg – „natürlicher“ Sohn des Königs Friedrich Wilhelm II. mit der Gräfin Sophie Julie Dönhoff – auf Anordnung seines Neffen Friedrich Wilhelm IV. die Vertagung und Verlegung der konstituierenden (= verfassungsgebenden) Versammlung für Preußen in Berlin an, was der Anfang vom Ende der Revolution (nicht nur) in Preußen wurde; eingehende Schilderung zu „Berlin 1848“ bei dem Abgeordneten, sowohl der Frankfurter Nationalversammlung (in der Paulskirche) als auch der konstituierenden Versammlung in Berlin, J.D.H. Temme, in: Augenzeugenberichte der deutschen Revolution 1848/49. Ein preußischer Richter als Vorkämpfer der Demokratie, 1996, S. 153 ff., 179-183 und 360 f. (Zeittafel). Am selben Tag wurde in Wien der Abgeordnete des in der Frankfurter Paulskirche tagenden Deutschen Reichstags, Robert Blum, einer „Ikone“ der eine Konstitution fordernden Bewegung, hingerichtet, was ebenfalls große Bedeutung für das weitere Geschehen in den deutschen Staaten erlangte. – Auch zu 1848 gibt es eine bemerkenswerte Monographie von Franzjörg Baumgart: „Die verdrängte Revolution. Darstellung und Bewertung der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg, 1976. Dazu auch Rezensent, in: Düwell/ Vormbaum (Hrsg.), Recht und Juristen in der deutschen Revolution 1848/49, 1998, S. 93-178. (mh)

    Univ. Prof. Dr. iur. utr. Michael Hettinger (mh). Promotion 1981, Habilitation 1987, jeweils in Heidelberg (Lehrbefugnis für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsgeschichte). 1991 Profes­ sur an der Universität Göttingen, 1992 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht in Würzburg, von 1998 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 in Mainz. Mit­herausgeber der Zeitschrift „Goltdammer’s Archiv für Strafrecht“.

    hettinger-michael@web.de

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