Psychologie

Dem eigenen Ich zu seinem Zuhause verhelfen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

Beate Steiner: Beziehungstraumatisierungen aus der Kindheit mit Imaginationen behandeln. Stuttgart: Schattauer, 1. Auflage 2022, 260 S., geb., ISBN 978-3-608-40061-8. € 45,00.

Frau Steiner, wer Ihre Arbeit mitverfolgt, weiß, dass Sie sich dem Thema Beziehungstraumatisierungen aus der Kindheit seit vielen Jahren widmen. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?

Mir ist dieses Thema so wichtig, weil Beziehungstraumatisierung als Ursache bei vielen psychischen Erkrankungen eine große Rolle spielt und die Bedeutung rein seelischer Verletzungen leicht übersehen wird. Bisher kamen in den Internationalen statistischen Klassifizierungssystemen von Krankheiten wie der ICD überhaupt keine psychischen Erkrankungen vor, denen rein emotional-kommunikative Beziehungstraumatisierungen zugrunde liegen. Dadurch wird dem Leid des Einzelnen nicht ausreichend Rechnung getragen und auch nicht angemessen behandelt. Zieht man z.B. bei den vielen Ausdrucksformen der Depression nicht auch solche Ursachen in Betracht, werden unter Umständen unangemessene Behandlungen empfohlen oder durchgeführt.

Das Traumathema ist in vielerlei Hinsicht ein Lebens­thema für mich. Ich hatte während meines Psychologiestudiums an der Goethe Universität in Frankfurt/Main das große Glück, Psychoanalyse bei sehr fortschrittlichen, krea­tiven Professoren studieren zu können. Besonders in Léon Wurmser fand ich später einen Lehrer und Menschen, dem das Verstehen vor allem schwerer Traumatisierung am Herzen lag. Er hatte stets die Dialektik äußerer Einflüsse und psychischer innerer Verarbeitung im Blick und ein umfassendes Konfliktverständnis. Er wusste darum, dass sich Trauma und Konflikt nicht ausschließen, sondern seelische Konflikte umso massiver werden, je schwerer die Traumatisierung ist. Denken Sie zum Beispiel an ein kleines Kind, dem für autonome Handlungsschritte ein Schuldbewusstsein eingeflößt wird. Dieses Kind wird abhängig bleiben. Später wird es sich für seine Abhängigkeit schämen und sich gleichzeitig nicht aus ihr lösen trauen; es wird sich schwach und minderwertig fühlen; gleichzeitig schuldig für seine Loslösungsbestrebungen sowie für seine Wut, dass ihm die Loslösung verwehrt wird. Ein meist folgenschwerer Teufelskreis.

Was sagen Sie zu der Aussage mancher Kliniker: Bei manchen Therapeuten ist heutzutage alles „Trauma“?

Dahinter steckt m.E. ein Vorwurf des inflationären Gebrauchs und auch ein Zweifel, dass Traumatisierung so weit verbreitet sein könnte. Dadurch aber, dass seit über 30 Jahren die theoretische und praktische Beschäftigung mit dem Traumathema stark zugenommen hat, hat auch eine Sensibilisierung bei vielen Kliniker:innen und Kritiker:innen stattgefunden. Das wirkt selbstverständlich auf die Praxis zurück und bewirkt, dass das, was bisher übersehen wurde, nun stärker wahrgenommen wird. Denn es gibt ja in jedem Leben bei jedem Menschen traumatische Ereignisse, die ihn belasten oder zutiefst erschüttern und krankmachen können. Ob und wie ein traumatisches Ereignis, oder viele darauffolgende, verarbeitet werden können, hängt von Faktoren wie der Schwere des traumatischen Ereignisses, seiner Dauer und Häufigkeit, aber auch von subjektiven Faktoren, wie z.B. dem Alter, den persönlichen Ressourcen, der sozialen Unterstützung bei der Verarbeitung ab – und bei Beziehungstraumata von der Nähe zur Beziehungsperson. Denn es macht einen Unterschied, ob man durch einen Familienangehörigen traumatisiert wird oder durch Personen, die mehr außen stehen. Auf jeden Fall wird das Vertrauen in die Sicherheit und Tragfähigkeit einer Bindungsbeziehung erschüttert. Für das Verstehen eines psychischen Traumas ist für mich persönlich bedeutsam, was der amerikanische Facharzt für Psychiatrie Henry Krystal, Holocaustüberlebender und Traumaforscher, uns schon 1978 gelehrt hat: ein psychisches Trauma als eine Konfrontation mit überwältigenden Affekten, also Gefühlen, zu begreifen, die einen unerträglichen psychischen Zustand herbeiführen. Dieser ist dann mit Desorganisation aller psychischen Funktionen verbunden. Im Säuglingsalter, so müssen wir annehmen, sogar mit ihrer totalen Vernichtung.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie komplex traumatisierte Patient:innen mit Ihrer Methode der Katathym Imaginativen Psychotraumatherapie (KIPT) behandelt werden können. Was genau versteckt sich hinter dem Begriff katathym und was kennzeichnet Ihre Methode?

Katathym bedeutet im Griechischen gemäß den Gefühlen („Kata“ = „gemäß“, „thymos“ = Seele/Emotionalität). Der Begriff katathym weist darauf hin, dass es sich in den Imaginationen der Patient:innen um emotionale, bzw. vom Affekt gesteuerte Bild- und Erlebnisinhalte handelt. Die KIPT ist eine psychotherapeutische Zusatzausbildung. Sie ist eingebunden in tiefenpsychologisches und psychoanalytisches Behandeln und nutzt die Erkenntnisse der Psychotraumatologie, der Psychoanalyse, der Selbstpsychologie, der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der Neurobiologie der Bindung. Sie arbeitet mit Übertragung und Gegenübertragung, genauso wie mit einem umfassenden Konfliktverständnis, und nutzt das kreative Potential von Imaginationen, also innere Vorstellungswelten. Sie vertritt außerdem ein bestimmtes Menschenbild, das nicht auf Störung abhebt, sondern versucht, die Patient:in in ihrem Gewordensein zu verstehen und die innere Dynamik dieses Gewordenseins in ihrer tiefergehenden Bedeutung zu erschließen. Dabei erweisen sich Imaginationen als sehr wertvoll, da sie in ihrer Symbolik zu Erkenntnissen führen, die für Patient:innen aus der Bildsprache heraus schnell nachvollziehbar werden.

Neben der haltenden therapeutischen Beziehung bildet die Imaginationsstruktur für die traumatisierten Patient:innen einen zusätzlichen Rahmen, der ihnen mehr Stabilität, Schutz und die nötige Kontrolle über bedrängende Affekte und traumatische Intrusionen anbietet. Die KIPT zielt konsequent auf die Förderung der eigenen Wirkmächtigkeit ab. Diese ist besonders wichtig, da Traumatisierung Hilflosigkeit und Ohnmacht bedeutet. Jetzt als erwachsene Person zu erleben, dass man in seinen Vorstellungen wirkmächtig sein kann und sich eine neue, aus der eigenen Kreativität geborene Seelenlandschaft gegen innere toxische Welten erschaffen kann und darin von der Psychotherapeut:in unterstützt wird, erweist sich als höchst förderlich für den Therapieprozess. In der KIPT bauen verschiedene Motive aufeinander auf und begleiten die Patient:in innerlich als eine Schutzmacht gegen das erlebte Zerstörerische. Dies verhilft dazu, das Zerstörerische, Fremde, nach und nach aus dem psychischen Organismus – metaphorisch gesprochen – „auszuscheiden“ und die verdrängte Wut nicht weiter gegen sich selbst zu richten. Das mag sich einfach anhören, ist aber ein Prozess, der viel Zeit und Anstrengung, sowohl auf Seiten der Patient:in als auch der Psychotherapeut:in erfordert. Denn es geht eben nicht einfach um gutes Funktionieren, gute Anpassung und Unterwerfung unter die Vorstellungen anderer, sondern darum, dem eigenen Ich zu seinem Zuhause zu verhelfen.

Das erinnert mich daran, dass ich mich als Kind in Harry-Potter-artige Fantasiewelten hineingeträumt habe, um mich selbst zu trösten und mich stark zu fühlen.

Was wären wir ohne unsere Fantasie- und Vorstellungswelten? Viele Kinder haben diese selbst geschaffenen Traumwelten oder gehen in Büchern auf, wo sie an den Held:innen oder anderen Protagonist:innen partizipieren. Diese kreative Freiheit, die wir alle haben, dieses wertvolle Potential, schafft alle möglichen Erfindungen, lässt uns Probleme lösen, Kunst kreieren, die wunderbarsten Musiken komponieren und spielen, Literatur schreiben. In der KIPT nutzen wir dieses Potential dazu, dass sich die Patient:in stabilisiert und erkennt, welche Kreativität in ihr steckt; wie berührend es ist, heute als erwachsene Person die Unterstützung, die man sich schon immer gewünscht hat, durch hilfreiche innere Begleiter:innen und die Psychotherapeut:in zu bekommen, die diesen Prozess mitträgt. Kontakt zu einem lebensfrohen, lebendigen inneren Kind zu bekommen, das man so gerne gewesen wäre – und zu verletzten inneren Kindern, die man hier und heute in der Vorstellung aus traumatischen Situationen retten und an ihren sicheren, geschützten Ort holen kann. Dies ist bedeutsam, um sich von schädlichen verinnerlichten Beziehungserfahrungen, sogenannten Täterintrojekten, zu lösen, die immer noch lebensbestimmend sind. Dahin zu kommen braucht viel Zeit, trägt aber wesentlich zur inneren Befreiung bei, die dann auch im Außen wirksam werden kann, indem man sich beispielsweise aus unterdrückenden oder sadistischen realen Beziehungen löst. Wichtig ist auch die Auseinandersetzung mit unerbittlichen inneren Kritikern, Demütigern, Entwertern im Über-Ich. Hier sensibilisieren wir die Patient:in dafür, wie sie sich selbst immer wieder niedermacht, kein gutes Haar an sich lässt, sich selbst beschuldigt, oder in kompromittierende Situationen bringt.

Woran erkennen Sie, dass ein schwer traumatisierter Mensch geheilt ist?

Die Auseinandersetzung mit schwerer Traumatisierung und ihre Integration ist ein lebenslanger Prozess. Bei Traumatisierungen in der frühen Kindheit ist das ganze Selbstund Weltbild davon bestimmt. Das dürfen wir nicht vergessen und müssen das auch der Patient:in kommunizieren, sonst machen wir ihr etwas vor und sie muss glauben, dass es ihr Versagen, ihre Schuld ist, wenn sie die Verletzung wieder spürt, sie sie neu schmerzt und ihr Angst macht oder wütend oder traurig. Ein seelisches Trauma lässt sich analog zur körperlichen Ebene veranschaulichen: Ein Mensch hat eine schwere körperliche Verletzung erfahren, z.B. eine Verbrennung. Seine Narben werden sichtbar bleiben, auch wenn vielleicht eine Schönheitsoperation kompensatorisch wirken konnte. Denken Sie an Nicki Lauda, dessen Gesicht von seinen schweren Verbrennungen für immer gezeichnet war. Ein solcher Mensch wird diese schwere Verletzung nicht vergessen können, genauso wenig, wie die Umstände, die dazu führten. Er wird nach diesem Ereignis nicht mehr der gleiche sein wie vorher. Er muss sich sagen, und das ist die Wahrheit, ich bin dieser Mensch, der diesen schweren Unfall und die schwere Verbrennung erfahren hat, mit all ihren Folgen, und ich hatte Glück, dass ich ein kompetentes Rettungsteam und Ärzte, Freunde, Verwandte hatte, die mir beistanden, und ein soziales Netz, das mich auffing. Ich schreibe in meinem Buch nicht von Heilung, aber von Behandlung. Meine ganze psychotherapeutische, psychoanalytische und traumaorientierte Arbeit und die Rückmeldung von vielen Ausbildungsteilnehmer:innen zeigen, dass wir viel bewirken können: Leid, Schmerz und Verzweiflung lindern, Augen öffnen, um sehend zu werden und das eigene Gewordensein anzuerkennen, Kreativität befördern, neue Perspektiven ermöglichen, Selbstbewusstsein stärken und Selbstliebe ermöglichen, Beziehungsfähigkeit fördern, alternative, neue Beziehungsmöglichkeiten bereitstellen und die Freude am eigenen Entwicklungsprozess stärken – der zwangsläufig beinhaltet, dass Leben Konflikt bedeutet. Ein schwer traumatisierter Mensch wird ein Leben lang von seiner schweren seelischen Verletzung gezeichnet sein. Was wir mit ihm erreichen können ist, dass er seine Verletzungen und was damit einhergegangen ist, nicht verleugnen oder schönreden muss und zulassen kann, dass seine manchmal wiederkehrenden Symptome auf traumatisches Erleben zurückgehen und seinen Versuch darstellen, mit etwas zu leben, mit dem sich eigentlich nicht leben lässt. Ein schwer traumatisierter Mensch befindet sich in einer solchen paradoxen Situation. Auch das müssen wir ihm vermitteln, und das ist mit viel Trauer, aber auch Wut über das, was ihm widerfahren ist, verbunden. Einfache Aufforderungen, den Eltern oder Tätern vergeben zu sollen und sich zu versöhnen, ist zu einfach gedacht. Wie ich vorhin schon sagte, eine Heilung in dem Sinn, dass eine Patient:in ihre Traumatisierung verliert, gibt es nicht. Aber einen besseren Umgang mit ihren Folgen und ein symptomfreieres Leben.

Könnte prinzipiell jede Therapeut:in nach der KIPTMethode behandeln? Und ist Kreativität überhaupt noch möglich innerhalb einer psychotherapeutischen Ausbildung, die mehr und mehr auf „Evidenz“ aus quantitativen Studien beruht?

Ja, das Quantitative legt nahe, dass wir letztlich alle wie Maschinen sein sollten, die man berechnen und somit besser kontrollieren kann und mit ein paar „tools“, also Werkzeugen, funktionabel machen könnte. Vielen macht die Komplexität der Psyche einfach Angst, da es keine einfachen Programme und Methoden gibt, um sie in den Griff zu bekommen. So ent­wickelt man immer neue „tools“, Arbeitsblätter und Fragebögen, die nach statistischen Verfahren erstellt sind und in ihrer Fragestellung teils dermaßen eindimensional sind, dass man sich fragen muss, welches Menschenbild dem ganzen zugrunde liegt. Wenn Psychotherapeut:innen mit der KIPT arbeiten, sollten sie eine tiefenpsychologische oder psychoanalytische Ausbildung haben, damit sie die Voraussetzungen, die dieser Behandlungsansatz verlangt, auch fruchtbar und eben nicht standardisiert einbringen können, sonst verkommt das Ganze zu einer Art ­Manual, von dem man denkt, man müsse nur eine Imagination nach der anderen einfach der Patient:in vorgeben und dann sei sie bald „geheilt“. Und wenn das nicht klappt, na, dann muss die Patient:in schuld sein, unwillig, nicht therapierbar, zu schwer „gestört“.

Auf dem Gebiet der Psychotherapie werden ja heute viele solcher Manuale mit konkreten Handlungsanweisungen veröffentlicht, Was halten Sie ­prinzipiell davon?

Die Manuale bedienen meines Erachtens die magische Erwartung, solche künstlich begrenzten Behandlungsansätze könnten intensive Behandlungen ersetzen. Doch wird die Beschränkung auf solche Manuale dem tiefen Leid und Ernst vieler psychischer Erkrankungen und den vielfältigen Schwierigkeiten, die in einer Behandlung auftreten, nicht gerecht. Vor allem wird dabei vergessen, das ganz besonders schwere psychische Erkrankungen sehr viel Zeit und Bearbeitung benötigen. Diese Patient:innen müssen in einer haltenden, Vertrauen schaffenden Beziehung mit der Therapeut:in neue Beziehungserfahrungen machen, ihre immensen Probleme bearbeiten und zunehmend ihre Affekte besser kontrollieren lernen, damit dies nicht weiter z.B. über Dissoziation oder Gefühlsstarre geschehen muss. Es bedarf Behandler:innen, die sich mit Übertragung und Gegenübertragung auskennen und die sich nicht erschrecken lassen von der Wucht traumatischer Übertragung, wo sie die traumatischen Affekte der Patient:innen hautnah erfahren. Ist man im Erkennen und im Umgang mit traumatischer Übertragung nicht geschult und gewohnt, mit diesem Instrument zu arbeiten, kommt es unter Umständen zum Beziehungsabbruch. Oder die Patient:in wird für unbehandelbar erklärt, an die nächste Therapeut:in überwiesen oder in eine Klinik geschickt. Wenn das Heil in Manualen, die nur ganz weniger Variablen berücksichtigen, gesucht wird, wird die hohe Komplexität der Psyche und damit auch das Individuelle jedes Menschen und der gesamten am Prozess beteiligten Variablen ignoriert – und damit das ganz Spezifische einer jeden Behandlung. Denn das ist ja letztlich die Kunst: das ganze psychotherapeutische Können jeweils auf den Einzelfall anzuwenden und nicht alles über einen Kamm zu scheren.

Beim Lesen Ihres Buches schienen mir Ihre theoretischen und praktischen Ausführungen so logisch. Sollten wir Menschen nicht eigentlich aus jahrhundertealter Erfahrung wissen, wie man mit Kindern umgeht, damit aus ihnen gesunde Erwachsene werden?

Leider wissen Menschen nicht seit Jahrhunderten, was nötig wäre, um Kinder zu gesunden Erwachsenen werden zu lassen. Es ist eine sehr traurige Geschichte, wie herzlos, grausam und rücksichtslos mit Kindern in den letzten Jahrhunderten umgegangen worden ist. Besonders hervorgetan hat sich im Dritten Reich die Ärztin Johanna Haarer, die mit ihrem Buch „Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ eine ganze Generation von Müttern dahingehend beeinflusst hat, die Bedürfnisse ihrer Kinder in herzloser Weise zu übergehen; und das schon gleich nach der Geburt, damit ein Kind lernt, dass es in diesem Leben nichts Eigenes gibt. Dieses Erziehungsbuch wurde noch bis in die 1980er Jahre aufgelegt, allerdings jetzt mit dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“. Ich habe viele Patient:innen in meiner Praxis erlebt, die Opfer dieser Erziehungslehren geworden sind; die, wenn sie schrien, in Küchen oder Kammern geschoben wurden, zum Abhärten stundenlang in der Kälte standen, nichts zu sagen hatten, übergangen und gepeinigt wurden und sich als Erwachsene für ihre scheinbar grundlose Traurigkeit, ihre innere Kälte und Leere, ihre Verzweiflung und scheinbar grundlose mörderische Wut schämten.

Was die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs angeht, wissen Sie ja auch, auf wieviel Widerstand Sigmund Freud Ende des vorletzten und Anfang des letzten Jahrhunderts gestoßen ist. Es durfte und sollte einfach nicht wahr sein, was seine Behandlungen zu Tage förderten: nämlich, dass hinter den lärmenden Symptomen vieler seiner damaligen Patient:innen ein sexueller Missbrauch durch nahe Verwandte und Bedienstete stand. Oder Pierre Janet der sich intensiv mit Dissoziation, also der Abspaltung von Bewusstseinsinhalten, beschäftigte als Folge der Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung überwältigender Erlebnissituationen, die immer dort auftritt, wo der Mensch sich nicht anders gegen traumatische Ereignisse schützen kann. Wir verschließen noch heute gerne die Augen davor, was vielen Kindern in den eigenen Familien an körperlicher und seelischer Misshandlung und an Vernachlässigung angetan wird, und damit an Verletzung, Schmerz und Leid. Wir schrecken nur kurz auf, wenn die Extremfälle ans Tageslicht geraten, schreien nach Bestrafung der Täter:innen und kehren dann zur Tagesordnung zurück. Wir alle möchten Familie als Hort der Geborgenheit und Liebe sehen und verleugnen deshalb gerne, dass das zu oft nicht der Fall ist; deshalb hilft uns das Vergessen, das Nicht-darüber-Nachdenken…

… also die Dissoziation. Was macht es mit Ihnen, wenn Sie die zahlreichen aktuellen Berichte zu Missbrauchsfällen lesen?

Es macht mich traurig, wütend und hilflos zugleich und hat einen Teil meines Weltbildes zerstört. Aber ich versuche immer wieder auf meine Weise wirkmächtig zu sein, vor allem in meinen Behandlungen bei Traumatisierten, aber auch, indem ich durch mein Buch ganz dezidiert darauf aufmerksam mache, was bei Beziehungstraumatisierungen geschieht. Indem ich aufklärerisch in meinen Seminaren, Supervisionen und Vorträgen wirke. Außerdem auch kein Blatt vor den Mund nehme, wenn es um entsprechende Vorkommnisse geht und darum, deren Hintergründe klar zu benennen.

Ich bin froh, das will ich nicht übergehen, dass mittlerweile mehr und mehr Spezialstellen bei der Polizei mit dem Aufspüren vor allem von sexuellem Missbrauch an Kindern, mit Kinderpornografie im Netz systematisch beschäftigt sind und dabei teils auch erfolgreich sind. Das ist sehr wichtig. Aber wir bräuchten auch vom Gesetz­ geber die verbriefte Erlaubnis, dass die entsprechenden Stellen gerade im Netz noch effektiver arbeiten können, damit die Täter:innen nicht hinter dem individuellen Datenschutz einen Freibrief für ihre abscheulichen Taten genießen und das Verbot der Datenspeicherung ihr perverses Tun schützt. Hier wäre die Gesetzgebung stärker gefragt. Sicher weiß ich, dass dies eine Gradwanderung in Bezug auf das Freiheitsrecht des Einzelnen ist, das in einer Demokratie nicht angetastet werden sollte. Aber was ist das für eine Freiheit, die es erlaubt, Kinder für ihr ganzes Leben massivst zu schädigen und sich immer jüngere Opfer auszusuchen, weil die für das, was ihnen angetan wird, keine Sprache haben – außer, dass sie schwerste Symptome ein Leben lang produzieren werden und früh mit Psychopharmaka behandelt, in ihrer Schulkarriere beeinträchtigt sein und unter diversen körperlichen und seelischen Erkrankungen schwer leiden werden – und wahrscheinlich auch daran, dass die Hintergründe nicht erkannt werden. Stattdessen werden diese Hintergründe in ihrem aggressiven Agieren in der Jugend und im Erwachsenenalter in Erscheinung treten, wo sie dann verschiedenste Etiketten der Störung übergestülpt bekommen.

Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind sehr lang. Wie lange dauert in der Regel die Therapie schwer traumatisierter Menschen?

Schwer traumatisierte Patient:innen brauchen eine Langzeittherapie und die Zeit, die sie jeweils brauchen. Die Richtlinientherapie gibt eine Grenzsetzung, die rein juristisch betrachtet über- und unterschritten werden kann. Was die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz angeht, haben wir vor allem in den Städten einen großen Engpass. Das ist ein politisches Problem und hängt mit der Kontingentierung zusammen. D.h. von dem Gesamtkuchen, der für Behandlung von Erkrankungen ausgegeben wird, entfällt relativ betrachtet der geringste Teil auf die Bezahlung von Psychotherapien. Außerdem wird festgelegt, wie viele Psychotherapeut:innen sich jeweils niederlassen dürfen. Dieser Engpass verursacht für viele Patient:innen eine Chronifizierung ihrer psychischen Erkrankung und dadurch im Endeffekt höhere Gesamtkosten, die dann die Gesellschaft zu tragen hat.

Gibt es etwas, das Patientinnen zusätzlich zur oder statt einer Psychotherapie für sich selbst tun können?

Sich vorübergehend an Beratungsstellen wie Profamilia, Studentenberatungen, Familienberatungszentren, Frauenhäuser wenden, um nur einige zu nennen. Aber auch das Aufsuchen von Selbsthilfegruppen kann hilfreich sein, und Sport als ein wichtiges Antidepressivum.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Steiner.

 

Beate Steiner, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DGPT), Dozentin, Lehranalytikerin und Supervisorin, Spezielle Psychotraumatologie (DeGPT), ist in eigener Praxis tätig. Seit 2002 ist sie Leiterin des Instituts „Arbeitskreis für Psychotraumatologie und Katathym Imaginative Psychotraumatherapie“. be-steiner@t-online.de 

Annett Pöpplein, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Autorin und Übersetzerin. Ihre professionelle Laufbahn startete sie als Marketing Research Consultant für multinationale Konzerne. Heute ist sie in eigener Praxis niedergelassen und arbeitet dort tiefenpsychologisch und traumatherapeutisch.  annett.poepplein@outlook.de

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