Landeskunde

Das Land der Mitte von den Rändern her betrachtet

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2021

„So wie das Leben den Tod nie begreift, und der Tod nie das Leben, so versteht auch die Zukunft nie die Vergangenheit, und die Vergangenheit nie die Zukunft.“ 故生不知死,死不知生,來不知去,去不知來。– Lièz˘ı 列子(5./4. Jh. v.u.Z.)

Páng Míng 龐明, der 1940 geborene Großmeister des Q ­ ìg¯ong 氣功, jener mit „Arbeiten an der Lebensenergie“ zu übersetzenden Praktiken der Kultivierung des Lebens, würde dem Satz des Liezi nicht zustimmen. Jede augenblickliche Manifestation eines Dinges ist nach der qìg¯ongLehre nicht isoliert und absolut zu verstehen. Sie ist das Ergebnis der Vermischung von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zuständen. Dahinter steht eine Theorie der Ganzheit, die sich aus einem intensiven Studium der chinesischen Philosophie und insbesondere der Deutung des Begriffes 氣erschließen lässt. Wie aber kann man sich der chinesischen Philosophie und ihren Traditionen nähern?

Hubert Schleichert/Heiner Roetz, Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Klostermann Rote Reihe Band 28. 2021. 437 S., Paperback. ISBN 978-3-465-04526-7. € 24,80.

    Eine grundlegende Einführung zweier versierter Kenner der chinesischen philosophischen Traditionen bietet sich hier als „Einführung“ an. Heiner Roetz hat die vor vierzig Jahren erstmals erschienene Darstellung von Hubert Schleichert noch einmal gründlich überarbeitet und erweitert. Allerdings endet die Darstellung mit der Gründung des Einheitsstaates unter der Dynastie Qin, aber die „Hundert Schulen“ der „klassischen Zeit“ werden ausführlich und unter Hinzuziehung zahlreicher in deutscher Übersetzung eingefügter Texte vorgestellt. Ohne solches Basiswissen über das Altertum, eines der vielen „Ränder“, von denen aus sich China definiert, ist die Beschäftigung mit der weiteren Entwicklung kaum möglich, sodass diese Einführung wärmstens empfohlen sei.

     

    Pohl, Karl-Heinz, China für Anfänger. Eine faszinierende Welt entdecken. Berlin: Europäischer Universitätsverlag 2020. 299 S., Paperback. ISBN 978-3-86515-285-5. € 16,90.

      So wichtig die klassische chinesische Philosophie auch ist, so muss doch zu einem besseren Verständnis der chinesischen Welt weit mehr in den Blick genommen werden. Da China in dem allgemeinen Bildungskanon in Europa bisher weitgehend vernachlässigt wird, ist das Buch von Karl-Heinz Pohl höchst verdienstvoll, weil der Autor mit seinen immer wieder den Blick für das Faszinierende öffnenden Darstellungen dem Land und seiner Geschichte und Gegenwart, einschließlich der philosophisch-religiösen Traditionen, ein facettenreiches Bild abgewinnt. China wird von vielen Seiten aus beschrieben, und dadurch erst wird die Grundlage für ein besseres Verständnis dieses seit nunmehr über hundert Jahren sich dramatisch verändernden Landes gelegt. Wer allerdings den gegenwärtigen Debatten über und mit China in ihrer Komplexität auf den Grund kommen möchte, der muss einen längeren Weg beschreiten. Einige Zugänge und Einstiegshilfen zu solchen Wegen sollen im Folgenden vorgestellt werden.

       

      Fabian Heubel, Was ist chinesische Philosophie? Kriti ­ sche Perspektiven. Meiner: Hamburg 2021. 403 S., kartoniert. ISBN 978-3-7873-3808-5. € 28,90.

        Fabian Heubel sucht in seinem neuesten Buch eine Antwort auf die Frage „Was ist chinesische Philosophie?“ in der Auseinandersetzung mit der chinesischen Gegenwartsphilosophie, zu welcher er selbst bereits publizierte (Chinesische Gegenwartsphilosophie: FBJ 2017/3) einerseits, und mit den Einordnungsversuchen anderer, namentlich von François Jullien, Jean François Billeter und Heiner Roetz, andererseits. Dabei geht er nicht auf das insbesondere im 20. Jahrhundert sich mehr und mehr verfestigende Klischee der Kontrastierung von Ost vs. West oder Asien vs. Europa näher ein, ohne dessen Hinterfragung wir immer wieder in selbst gestellte Fallen geraten. Insbesondere in den USA gab es eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Cold War Orientalism“, eine Debatte, welche in Europa wenig Beachtung fand, obwohl doch in den letzten Jahrzehnten das Asienbild dort im Wesentlichen durch amerikanische Forschung geprägt wurde. Die ganze Geschichte der in Amerika beförderten Orientalisierung Chinas einerseits und deren Revision andererseits, prägnant im Titel des eine „Spannung zur Welt“ proklamierenden Buches von Thomas A. Metzger, Escape from Predicament (1977), zum Ausdruck gebracht, samt der Suche nach Elementen innerweltlicher Transzendenz im Neokonfuzianismus, gilt es natürlich weiter in Rechnung zu stellen. Nicht zu vergessen sind auch die verbohrten und mutwilligen Selbstentblößungen durch Reduktion und Vertreibung in China selbst, als während der Kulturrevolution die radikale Abkehr von jeglicher Überlieferung propagiert und Konfuzius zur Vernichtung freigegeben und das akademische Denken und Forschungen zeitweise ganz in den Dienst des Staates und der Partei gestellt wurden, sodass man glaubte, ein einziges Forschungsinstitut für Philosophie in Peking sei ausreichend für ganz China. Solche Entwicklungen hatten ja auch die bis heute verbreitete Vorstellung von einem gleichgeschalteten uniformen China befördert. Dadurch wurde der Blick auf die dahinter liegende Vielfalt verstellt, die weiterhin wirkmächtig ist, auch wenn die KP Chinas diese einzuhegen versucht. Weitgehend ungeachtet dieser Vorgeschichte und dieses Hintergrundes beginnt Fabian Heubel mit einer „weltphilosophischen Perspektive“ (S.10) und positioniert sich ausdrücklich jenseits des von Zhào Tˉıngyáng 趙汀陽 (Alles unter dem Himmel: FBJ 2020/4) postulierten Weltgesellschaftskonzeptes, zugleich sich distanzierend von Julliens „Zerrbild“ (S.48) einer Idealisierung Chinas. Dessen Ausgangsposition kennzeichnet Heubel mit Sätzen wie „Ein Europa, das sich weiterhin selbstbezüglich und selbstgefällig für den normativen Maßstab von dem hält, was als modern und fortgeschritten gelten kann, hört auf zu verstehen, was »Moderne« bedeutet, weil es sich von der Dynamik einer globalen Modernisierung abschneidet, die dereinst von Europa ausgegangen ist: Die chinabezogene Unkenntnis lähmt auch die europäische Fähigkeit zur kritischen Selbsterkenntnis.“ (S. 12f.) Anschließend eröffnet Heubel eine Perspektive, die als von der Subjektivität, also auch von einem „Rand“ ausgehend zu fassen ist und die er folgendermaßen umschreibt: „Mein Zugang zu chinesischer Philosophie orientiert sich an der Frage einer philosophischen »Theorie des Energiewandels« (qìhuà lùn 氣化論) und des dazu gehörenden Paradigmas »energiewandelnder Subjektivität« (qìhuà zh˘ut˘ıxing 氣化住體性). Das ist eine Perspektive, die explizit von einem transkulturellen Diskussionskontext innerhalb der chinesischen Gegenwartsphilosophie ausgeht, der in Europa weitgehend unbekannt ist.“ (S. 15) Das Buch fordert den Leser/die Leserin, auch weil es ein Reflexionsniveau anstrebt, an dem sich, und dies soll hier betont werden, jede zukünftige Auseinandersetzung mit der Titelfrage wird messen lassen müssen. Ein Personen- und Begriffsregister allerdings wäre hilfreich gewesen, und vielleicht fügt dies der Verlag einer Neuauflage noch hinzu.

         

        Zhu Zhìróng, Philosophie der chinesischen Kunst. Berlin: Lit Verlag 2020. 352 S., Broschiert. ISBN 978-3-643-14501-7. € 39,90.

          Zur Unterfütterung und Erweiterung der von Fabian Heubel entwickelten Position ist es höchst förderlich, sich weiterer Zugänge und Positionen zu versichern. Hier ist an erster Stelle die von der erfahrenen Übersetzerin Eva Lüdi Kong ins Deutsche übertragene Philosophie der chinesischen Kunst von Zhu Zhìróng 朱志榮, Jahrgang 1961, zu nennen, vor allem auch, weil dort, ebenso wie bei Fabian Heubel, das Subjekt in den Vordergrund rückt. Nicht die sogenannten Bildenden Künste stehen dabei im Vordergrund, sondern die Dichtkunst. Aus der Einsicht, dass im chinesischen Altertum „Lieddichtung und Musik ebenso ineinander übergingen wie später Poesie, Malerei und Kalligrafie in den Werken der Gelehrtenkünstler“, thematisiert der Autor Begriffe wie Inspiration, stille Leerheit und vitale Energie, also auch hier 氣, ebenso wie Harmonie, Resonanz und Tradierungsprozess. Natürlich ist das Werk von Zhu Zhirong, der sich durchgehend auf die alten und ältesten Traditionen bezieht, die Konstruktion eines Narrativs, welches man in den Dialog mit anderen Sichtweisen stellen muss. Doch die kundige und durchweg treffende Übersetzung von Eva Lüdi Kong macht dieses Werk zu einem Meilenstein für die Auseinandersetzung mit der Philosophie und Theorie der Kunst und Ästhetik im heutigen China.

           

          Eugenia Werzner, Ein neuer Klang der alten Lieder. Eine Analyse des Bedeutungsbegriffs in qingzeitlichen Shijing-Kommentaren. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2020. 324 S., Broschiert. ISBN 978-3-96023-287-2. € 29.00.

            Das als ältestes Zeugnis der Dichtung Chinas bekannte Shijing (»Buch der Lieder«) steht seit jeher im Zentrum aller Überlegungen zur Subjektivität und Moral und zum Menschenbild in China. Daher wundert es nicht, dass die Erforschung des Altertums und damit die Rekonstruktion der Gegenwart und die Gewinnung von Zukunftsperspektiven mit der Tradierung und Deutung von Gedichten und Liedern einhergeht. Dies demonstriert Eugenia Werzner in einer materialreichen und wohldurchdachten Leipziger Dissertation. Eine Vielfalt von Diskursen ist hier ineinander verwoben, nicht zuletzt der Geschlechterdiskurs, vor allem aber die Neugewinnung von Abstand zu und gleichzeitiger Vertrautheit mit der historischen Überlieferung im Lichte literatur- und sprachtheoretischen Denkens in der Zeit des letzten Kaiserreiches. Zugleich erörtert die Autorin zentrale Begriffe der Poetik und deren bisherige Deutung, welche sie in einem Glossar (S. 291-298) nochmals zusammenfasst.

             

            Yuk Hui, Die Frage nach der Technik in China. Ein Essay über die Kosmotechnik. Aus dem Englischen von David Frühauf. Berlin: Matthes & Seitz 2020. 326 S., Hardcover. ISBN 978-3-95757-850-1. € 28,00.

              Die von Martin Heidegger entfaltete „Frage nach der Technik“ konfrontiert der aus Hong Kong stammende Medientheoretiker Yuk HUI mit der Frage „nach einem ganz spezifischen Chinesischen Denken über Technologie, das in der Lage ist, mit Heidegger in Dialog zu treten. Im Durcharbeiten von in den chinesischen Denktraditionen gefundenen Antworten sucht der Autor „ein neues Verständnis des Dao in Bezug auf die globale Achse der Zeit“ (S. 254). Die auch von Fabian Heubel adressierte neue Weltkonstellation greift Yuk HUI auf und ruft noch einmal die für das Anbrechen der Moderne in China so bedeutsame Phase der Reflexion über Wissenschaft und Technologie in der Zeit der Bewegung der Neuen Kultur im frühen 20. Jahrhundert auf. Doch nicht eine bündige Theorie versucht der Autor zu präsentieren, sondern er stellt in das Zentrum dieser Sammlung von auf aktuelle Debatten Bezug nehmenden philosophisch-geschichtlichen Exkursen das Verhältnis von 氣und dào 道 und mithin die subjektive Seite. Man kann durchaus gespannt sein, wie sich die auch hier wiederholt aufgerufene Subjektivität einmal auf die Ausgestaltung vermutlich nur institutionell zu findender Regelungen allgemeiner Daseinsfürsorge auswirken wird, ohne welche die vom Autor gesuchte Antwort auf die entfesselten Technologien der Gegenwart kaum gefunden werden dürfte.

               

              Klaus Mühlhahn, Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart. München: C.H.Beck 2021. 760 S., Hardcover. ISBN 978 3 40676506 3. € 39,95.

                Wer alle solche Debatten und Diskurse im Kontext jenes Transformationsprozesses verstehen will, den China seit der letzten Kaiserdynastie durchlaufen hat, sollte zu der wunderbaren Darstellung von Klaus Mühlhan greifen, der von diesem Prozess als einer Veränderung spricht, „die seit mehr als hundert Jahren im Gange ist und noch andauert“ (S. 28). Der Autor versteht es glänzend, Beobachtungen in verschiedenen Sphären wie der Politik, der Wirtschaft und der Kultur mit Einordnungen in weltgeschichtliche Zusammenhänge zu verbinden. Man kann das Buch auch „von hinten“ lesen und etwa mit dem Kapitel 10 »Reform und Öffnung 1977-1989« beginnen, und man wird sich immer wieder mittendrin fühlen. Ganz gewiss hat es der Darstellung gutgetan, dass der vorliegenden deutschen Fassung eine englischsprachige Publikation vorausging, die nach Auskunft des Autors nicht einfach übersetzt, sondern in vieler Hinsicht umgeschrieben werden musste.

                 

                Stefan Aust/Adrian Geiges, Xi Jinping. Der mächtigste Mann der Welt. München: Piper 2021. 287 S., Hardcover. ISBN 978-3-492-07006-5. € 22,00.

                  Wenn man die nicht nur von mir selbst, sondern auch von anderen formulierte Feststellung von „Chinas leerer Mitte“ ernst nimmt, ist auch der Bericht über Xi Jinping und dessen Beschreibung als „mächtigster Mann der Welt“ ein Bericht vom Rande her, dem Innenrand gewissermaßen. Die flott geschriebene und gut dokumentierte Biografie sucht Xi Jinping, den heutigen Zentralakteur, zu verstehen als Teil der chinesischen Geschichte, aber auch aus seiner eigenen Lebensgeschichte, und beleuchtet vor allem die Erfolgsgeschichte Chinas seit der Gründung der ­Volksrepublik China und der landesweiten Durchsetzung des Primats der KP Chinas. Natürlich sind die Schilderungen der Erfahrungen, die Sigmar Gabriel, auf den mehrfach Bezug genommen wird, als Bundesaußenminister und als Parteivorsitzender bei Treffen mit Xi Jinping sammeln konnte, unterhaltsam (leider hat der Verlag auf ein Personen-Register verzichtet), und auch die von Xi Jinping und der Partei ins Auge gefassten Entwicklungshorizonte sind zutreffend geschildert. Ob allerdings die Erfolge der Zero-Covid-Strategie, mit deren Schilderung das Buch beginnt, auf die Dauer aufgehen wird, scheint bereits kurz nach Erscheinen des Buches mehr als fraglich, seit Abschottungskaskaden zur Kontrolle und Überwindung der Pandemie das Land schwer belasten. Auch der Rückgriff auf die Biografie von Jung Chang über Mao Zedong entspricht nicht immer unserem heutigen Wissen, und es drängt sich der Verdacht auf, Jung Chang solle Sätze stützen wie „Mao war ein Monster – und Xi Jinping weiß das.“ (S. 110) Auch Berichte über Taiwan und Hong Kong fehlen nicht. Doch ins Detail gehen die Autoren dann nicht, sondern belassen es bei dem Statement, Xi Jinping brauche „keine Vorbilder mehr“, er wolle „China seinen eigenen Stempel auf­drücken – und der ganzen Welt“ (S. 258). Doch was das genau bedeutet, für China wie für die Welt, bleibt dann doch unklar. Hierzu hätten sich die Autoren auf eine breitere Wissensbasis und eine größere thematische Vielfalt beziehen und auch einen Blick „hinter die Kulissen“ versuchen müssen. Denn nur weil China wichtig für die Welt ist, einfach aufgrund seiner Bevölkerungszahl und seiner Wirtschaftsleistung, ist Xi Jinping noch lange nicht „der mächtigste Mann der Welt“.

                   

                  Nele Noesselt, Chinese Politics. National and Global Dimensions. Baden-Baden: Nomos 2021. 290 S., P ­ aperback. ISBN 978-3-8487-4673-6. € 26,00.

                    Zuverlässigere Antworten auf Fragen zur inneren Dynamik chinesischer Politik gibt das in der Reihe »Studienkurs Politikwissenschaft« erschienene neueste Werk von Nele Noesselt zu den nationalen und globalen Dimensionen der Politik Chinas, welches zugleich und ein weiterer solider Baustein für mehr China-Kompetenz darstellt, die heute allseits herbeigesehnt wird. In kurzen und die internationale Forschung ebenso wie die Positionen von chinesischen ebenso wie westlichen sogenannten „Denkfabriken“ einbeziehenden Analysen, also mit einem Innen- wie mit einem Außenblick, stellt die Autorin die gegenwärtige nationale Politik wie deren internationale Ausrichtung dar. Trotz einer hohen Informationsdichte ist die Darstellung anschaulich und sehr gut lesbar. Auf der Basis reichhaltigen Wissens und der wachen Beteiligung der Autorin an internationalen politikwissenschaftlichen Diskursen zur Politik Chinas ist es ihr gelungen, das derzeit profundeste Werk zu diesem Thema vorzulegen, dass jeder, der sich für China interessiert, mit großem Gewinn lesen wird. Die Informationen sind dabei so arrangiert, dass neben einer stringenten Analyse auch die Anschaulichkeit nicht zu kurz kommt, wenn sie etwa (S. 63-65) den Aufstieg und Fall von vier designierten Nachfolgern Mao Zedongs beschreibt, um dann das Thema der Transformation der KP Chinas von einer revolutionären zu einer regierenden Partei aufzugreifen. Dem Kapitel zu Verwaltung, Rechtssystem und Wirtschaft mit Themen wie der Institutionenbildung und der Einführung von Elementen demokratischer Beteiligung folgt eine Analyse der Pluralisierung und Fragmentierung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft mit dem Fokus auf die Stadt-LandBeziehungen ebenso wie auf die digitale Verwaltung. Die letzten Kapitel widmen sich den Interdependenzen zwischen globalen Veränderungen und den innerchinesischen Entwicklungen, einem Gebiet, auf dem sich die Verfasserin zu den weltweit führenden Experten rechnen kann. Zahlreiche Übersichten und Grafiken, u.a. zum CO2-Ausstoß, Arbeiterprotesten, zur Neuen Seidenstraße wie zum Wandel im China-Bild in den USA runden das Werk ab.

                     

                    Daniel Koss, Where the Party Rules. The Rank and File of China’s Communist State. Cambridge. Cambridge University Press. 2018. XVI+391 S., Paperback. ISBN 978-1-108-43073-9. GBP 26,99.

                      Wer über die etwa fünfzig Seiten zur KPCh und ihrer Rolle bei Nele Noesselt hinaus Informationen zum besseren Verständnis dieser inzwischen letzten kommunistischen Partei von Weltgeltung sucht, sollte zu dem Werk des Parteienforschers und Sinologen Daniel Koss greifen. Dieser analysiert die langfristigen, etwa noch aus der Zeit des Widerstandes gegen die japanische Okkupation datierenden Bindungen zwischen regionalen Bevölkerungen und der Partei und nimmt die Aushandlungspraxis bei den sich in der Praxis ständig neu ergebenden Zielkonflikten zwischen den gesamtstaatlichen und den regionalen Interessen in den Blick. Dabei bestätigen sich weit in die vorrevolutionäre Zeit zurückreichende „best-practice-Methoden“ insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit besonders konfliktträchtigen Gebieten. Die Auswahl der tüchtigsten und am besten geeigneten Kader für die schwierigsten Aufgaben führte nicht immer, aber eben doch sehr oft zum Erfolg und beförderte den Adaptions- und Lernprozess innerhalb der Partei. Man kann nur hoffen, dass das in solchen in Englischer Sprache verfassten Werken versammelte Wissen auch in den China-Diskurs innerhalb der deutschen Politik Eingang findet!

                       

                      Harro von Senger, 36 Strategeme für Juristen. Bern: Stämpfli Verlag 2020. 299 S., Paperback. ISBN 978-3-7272-1602-2. € 89,00.

                        Der Jurist und Sinologe Harro von Senger, der weltweit renommierte Wiederentdecker des unter dem Begriff der 36 Strategeme bekannten chinesischen Listenkanons, den er seit vierzig Jahren erforscht – 1988 erschien erstmals sein inzwischen weltweit verbreitetes Kompendium, möchte in seinem neuesten Buch Juristinnen und Juristen zur Hand gehen, Rechtskompetenz durch Strategemkompetenz zu ergänzen. Es geht ihm um eine „Horizonterweiterung“, denn „die abendländische Zivilisation ist angesichts der List in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen sprach- und hilflos.“ (S.80). Harro von Senger hat sich daher zum Ziel gesetzt: „Juristinnen und Juristen sollen in die Lage versetzt werden, dank der Rezeption der chinesischen Strategemkunde die Ressource List in ihrer ganzen Breite und Vielfalt recht systematisch wahrzunehmen, um damit gekonnt umzugehen.“ (S. 22) Als einer der aufmerksamsten Beobachter Chinas hat Harro von Senger in den letzten Jahrzehnten die chinesische Politik und die Entwicklungsschübe des industriellen und wirtschaftlichen Aufstieges ebenso wie die innenpolitische Formierung des, wie er es gerne formuliert, „Sino-Marxismus“ beobachtet. Der so gesammelte reiche Erfahrungsschatz schlägt sich nieder in dieser bestens strukturierten und eingängigen Darlegung der Listenlehre für Juristen, die uns ein bisher verborgenes „Reich der List“ erschließt. Ausdrücklich spitzt der Autor seine Thesen oft zu und provoziert gelegentlich, ermöglich dabei aber, wie es der Chinakenner Sebastian Heilmann einmal im Hinblick auf die Strategemkunde Harro von Sengers formulierte, „erhellende Stunden und einige intellektuelle Überraschungen“.

                         

                        Sören Urbansky, An den Ufern des Amur. Die vergessene Welt zwischen China und Russland. München: C.H.Beck 2021. 375 S., Hardcover. ISBN 978-3-406-76852-1. € 26,00.

                          Während es sich bei den bisher vorgestellten Titeln um Zugänge zu China von unterschiedlichen Rändern und aus speziellen Perspektiven handelt, beschäftigt sich „An den Ufern des Amur“ mit einem Zwischenraum an Chinas Nordostgrenze, mit der „vergessenen Welt zwischen China und Russland“. Es handelt sich um jenen Grenzraum nördlich der Großen Mauer zwischen dem Baikalsee im Westen, an dessen Ufern sich einst die mongolischen Stämme versammelten, um ihr Weltreich zu erobern, und Wladiwostok im Osten, dem Tor Russlands ins Japanische Meer, dem ehemaligen Marinehafen, der „seinen Platz in der Wertschöpfungskette bis heute nicht wirklich hat finden können“ (S. 341) und wo sich Chinesen und Russen mischen oder auch gegeneinander abgrenzen. Sören Urbansky hat einen überaus anschaulichen Reisebericht vorgelegt. Mit den Augen Erfasstes wird geschildert und Wege werden erwandert, und immer wieder wird die Aufmerksamkeit auf Wesentliches gelenkt, auf zentrale Orte und manchmal unscheinbare, aber umso wichtigere Plätze oder Gebäude. Phasenweise begleitet der Berichterstatter auf dem Weg zum nördlichsten Punkt Chinas in einem VW Polo ein Kamerateam für Streetview-Aufnahmen für den Online-Kartendienst Tencent Maps. Man quert Pipeline-Trassen, durch welche sibirisches Öl „in die Organe der chinesischen Volkswirtschaft“ gepumpt wird, und erhält Einblicke in verlassene Bahnhofs-Wartesäle. Immer wieder wird Bezug genommen auf Debatten wie solche zur Seidenstraßen-Initiative, die gelegentlich euphorisch, zumeist aber mit viel Skepsis gepaart geführt werden. Dabei sind es nicht nur die auf der Reise gemachten Erfahrungen, sondern das Wissen und früher erworbene Kenntnisse des Autors, welche diesen Bericht zu einem intellektuellen Vergnügen und zugleich zu einem großen Reiseerlebnis werden lassen. Es scheint, dass der Autor sein durch eigene intensive Forschung gewonnenes Wissen im Hintergrund zu halten vermag und gerade deswegen als profunder Kenner der russisch-chinesischen Grenzregion mit einer Frische und Unmittelbarkeit von seinen Erfahrungen berichten kann, die er beim Aufsuchen von alten Freunden und Bekannten, aber auch von neuen Orten sammelt, ohne jemals, wie oft bei Erstbesuchern üblich, ungefiltert banale Eindrücke wiederzugeben. Ein Sachbuch, wie man es selten findet, und dessen Aktualität der Autor am Schluss nur andeutet, wenn er davon spricht, dass „eine Integration der Region Nordostasien in weiter Ferne“ liege (S.351), auch da es keinen Friedensvertrag zwischen Russland und Japan gibt, und dann weitere Konfliktlinien in der Region aufzählt. Viele der Menschen aber, denen er begegnete, fühlten sich als „Europäer mitten in Asien“ und betrachteten den Begriff „Ferner Osten“ als „eine Art Orientalisierung“ (S. 350), und er sagt von ihnen, was übrigens für die Menschen in ganz China gilt: „Die Menschen an beiden Ufern des Amur und darüber hinaus, sie haben sich ihre Nachbarn nicht ausgesucht.“ (S. 352)

                           

                          Philip Clart, Elisabeth Kaske, Ulrich Johannes Schneider ­ , Hg., Buchkultur aus China – Leipziger Spuren (Schriften aus der Universitätsbibliothek, Band 46) Leipziger Universitätsverlag: Leipzig. 116 S., Broschur. ISBN 978-3-96023-389-3. € 22,00.

                            Aus einer ganz eigenen Perspektive beschreibt eine Leipziger Ausstellung China, dessen Bevölkerung bis zum 20. Jahrhundert nur zu einem sehr geringen Teil, nämlich zwischen 5 und 15 Prozent!, literarisiert war. Der Rest war illiterat, und so legen Drucke und Schriften aus früheren Jahrhunderten Zeugnis ab von den Versuchen der Eliten, das Selbstverständnis Chinas ebenso wie das Verwaltungshandeln in schriftlicher, und das bedeutet für China seit Jahrhunderten überwiegend: in gedruckter Form zu beschreiben. Der Katalog entstand im Rahmen einer Ausstellung von Beispielen aus den Sinica-Beständen der Bibliotheca Albertina, einer der größten und ältesten seiner Art überhaupt, d.h. von Büchern aus und über China seit dem 16. Jahrhundert, sowie von Zeugnissen chinesischer Kultur aus weiteren Leipziger Sammlungen. Der Katalog führt nicht nur Zeugnisse der chinesischen Buch- und Schriftkultur auf, mit zahlreichen kundig erläuterten Abbildungen, sondern durch die Themenvielfalt und Informiertheit der einzelnen zusammenfassenden Textbeiträge ist aus Leipziger Beständen ein regelrechtes Chinahandbuch entstanden, welches die Beziehungen zu China und zu seiner historischen Vielfalt im Spiegel der in Leipzig präsenten Buchkultur in ganz allgemeiner Weise auffächert sowie Aspekte der chinesischen Kultur im weiteren Sinne anhand einzelner Objekte, etwa einer Schreibmaschine für das Chinesische, zusammengefasst als „Leipziger Spuren“, widerspiegelt.

                            Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen. Zuletzt erschienen von ihm in der Reihe C.H.Beck Wissen in 8. Auflage und vollständig neu bearbeitet „Das neue China“ (2021). Helwig.Schmidt-Glintzer@zentr.uni-goettingen.de

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