Im Fokus

„Das Buch ist wie das Jahr – eine totale Überforderung“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2020

 

Der Fotograf Andreas Rost ist Mitglied des Editorial Teams von Das Jahr 1990 freilegen. Kristina Frick traf ihn am 20. Februar 2020 in Berlin und sprach mit ihm über das Buch, das für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch nominiert ist.

2,5 Kilo nur über das Jahr 1990. Warum?

Tatsächlich gibt es über das Jahr 1990 gar nicht so viel. Erstaunlich an dem Jahr ist aber, dass es unglaublich dicht ist an Ereignissen. Möglicherweise so dicht an Ereignissen, dass es dem Kopf schwerfällt, sich an alles zu erinnern. Insbesondere, wenn man irgendwie betroffen war oder in Verantwortung stand. Und erst recht natürlich, um die Sachen einzuordnen. Natürlich steht das Jahr auch symptomatisch für die Jahre, die danach kamen. Eigentlich für die Jahre bis 2008, bis zu der großen Wirtschaftskrise. Alles, was in diesem Jahr 1990 so experimentell angelegt wurde, formte sich dann aus. Insofern ist es interessant, das Jahr zu betrachten.

Was zum Beispiel wurde experimentell angelegt?

Experimentell angelegt – was passiert mit einer Gesellschaft, wenn die Solidarität flächendeckend aufgekündigt wird, De-Industrialisierung flächendeckend stattfindet, viele neoliberale Experimente nahmen da ihren Anfang. Es ist auch erstaunlich, dass da ein Widerspruch drinsteckt. Auf der einen Seite erkämpft oder er-demonstriert sich ein Volk Demokratie und dann trifft es auf eine Demokratie, die sofort so böse Symptome von Demokratieentleerung zeigt. Zum Beispiel die Verträge der Zwei-Plus-Vier Verhandlungen. Schäuble sagt selber – irgendwo haben wir das auch in dem Buch – unter normalen Umständen hätte er das nie durch den Bundestag durchbekommen. Dagab es so viel Verhandlungsmasse, die Abgeordneten im Bundestag konnten das gar nicht alles lesen, durcharbeiten und in einem normalen demokratischen Prozess bewältigen. Oder Demokratieentleerung – es gibt eine große Bundesbehörde, die Treuhand, die komplett neben der Bundesregierung arbeitet und Ziele setzt, die gar nicht im Parlament beschlossen wurden. Das sind rechtsstaatlich höchst schwierige Operationen. Also haben wir auf der einen Seite einen großen Sieg der Demokratie und auf der anderen Seite gleich wieder einen Abbau. Das ist einer der Widersprüche, die dieses Jahr kennzeichnen und klar, Soziologen haben das schon aufgearbeitet. Wilhelm Heitmeyer, den ich sehr schätze, schreibt viel darüber. Aber in der Diskussion ist das noch lange nicht angekommen. Das ist nur ein Aspekt von vielen Aspekten, den dieses Buch transportiert.

Wo liegt der Unterschied zu 1989?

Der Unterschied, das hat Jan Wenzel sehr schön beschrieben, liegt hier: Du kannst im Grunde genommen jeden Menschen in Deutschland befragen, was er am 9. November 1989 gemacht hat und du hörst die schönsten und absurdesten und lustigsten Geschichten. Frag die Leute mal, was sie am 3. Oktober, am Tag der Wiedervereinigung gemacht haben. Das wird schon schwieriger. Für andere Daten, wie die Volkskammerwahl, was ja eigentlich ein extrem wichtiges Datum hätte sein können und müssen, wird die Fragestellung noch schwieriger.

In dem Erinnerungsvermögen gibt es große Unterschiede. 1989 war natürlich bei allen Beteiligten, sowohl im ­Osten als auch im Westen, ganz große Hoffnung dabei. ­Alle wollten an den flächendeckenden Sieg der Demokratie glauben und dieser Prozess ist unumkehrbar. Wenn du Leute nach 1990 fragst, spürst du eine zunehmende Frustration in den Antworten.

Dabei ist das doch nüchtern betrachtet ein großartiges Ereignis. Diese beiden Deutschländer, die durch eine komplett absurde Mauer getrennt wurden, können sich endlich wiedervereinigen. Das ist ja etwas, das nur schön sein kann.

Aber die Leute können das nicht so sehen. Dazu ist zu viel herum und übergelagert.

 

Warum habt ihr die lockere literarische Organisation als Erzählform gewählt, für ein Buch über Geschichte ja eher ungewöhnlich?

Dem Buch ging eine Installation bei dem f/stop Foto­ festival in Leipzig voraus. Bei der Installation waren nur meine Fotos zu sehen und Textfragmente, die Elske Rosenfeld zusammengesucht hat. Daraus entstand der Gedanke, ein Buch zu machen. Aber schon bei dem Prozess, diese Installation herzustellen, haben wir alle sehr schnell sehr viel gelernt. Die erste Erkenntnis war, dass das alles so komplex ist. Das nur mit meinen Fotos illustrieren zu wollen wäre die komplette Hybris gewesen. Also von mir. Das hätte nicht funktioniert. Auf der Textebene war das auch so. Nur ein paar Zitate aus Zeitungen einzustreuen, hätte das Jahr nicht abgebildet. Das war die erste Erkenntnis. Die zweite, für mich auch interessante Erkenntnis war, dass mir meine eigene Erinnerung doch des Öfteren ein Bein gestellt hat. Dass ich ganz viele Sachen, die wichtig waren, überhaupt nicht mehr gewusst habe. Dass ich Sachen, die wichtig waren, zeitlich falsch eingeordnet habe. Was mich dazu brachte, zu glauben, dass für Geschichtsschreibung die Erinnerung ein denkbar kompliziertes und unsicheres Terrain ist. Sollte man sich nicht drauf begeben. Insofern haben wir dann eher die Methode von Walter Benjamin angewandt. Verstreute Artefakte aufzusuchen und Dinge zu suchen, die jetzt nicht unbedingt die großen politischen Ereignisse reflektieren – Kohl trifft diesen oder jenen; dieser oder jener Beschluss wird gefasst. Das spielt in dem Buch natürlich eine Rolle. Aber wenn ich mir zum Beispiel die Interviews, die wir aus Fernsehdokumentationen abgeschrieben haben, angucke – da gibt es eine Sequenz, in der sich ein paar Arbeiter unterhalten, die offensichtlich bei der Wismut arbeiten (ein extrem gefährlicher Job, viele Leute sind mit 50 an Krebs gestorben). Die sagen natürlich ganz knallhart „Wir werden nicht mehr lange leben, Wiedervereinigung jetzt und sofort. Alles andere ist Unsinn, weil wir noch was davon haben wollen.“ Das ist natürlich ein Argument, über das sich Intellektuelle in ihrem Höhenflug gerne hinwegsetzen, was a) total ungerecht ist und b) siehst du natürlich an diesem Interview, welchen enormen Druck es auf der Straße gegeben hat, auf eine möglichst schnelle Wiedervereinigung zuzusteuern. Druck, dem sich Politiker auch nur sehr schwer entziehen konnten. Darüber begreift man vielleicht die Geschwindigkeit und auch die Fehler, die da gemacht worden sind. Wenn ich da in den Tagebüchern vom Teltschik blättere, haben die im Frühjahr 1990 in der Regierung in Bonn große Angst gehabt, dass da 16 Millionen Menschen in Bonn im Hofgarten stehen und alle ihr Begrüßungsgeld haben wollen. Und zwar sofort. Das war also auch für die Bundesrepublik eine enorme logistische Herausforderung. Ich glaube, in unserem Buch kriegt man diese emotionale Kraft, die in diesem Jahr steckte, geliefert. Nicht als wissenschaftliche Analyse, sondern als Lesestoff. Am Ende ist das Buch natürlich wie das Jahr. Das Buch ist eine totale Überforderung für den Leser, wie das Jahr für den beteiligten Ostdeutschen auch eine totale Überforderung war. In gewisser Weise führt uns also auch die Form dieses ­Buches emotional in dieses Jahr.

Welcher Struktur folgt das Buch?

Jede Seite ist ein Unikat. Es gibt keine Seite, die in irgendeiner Form einer anderen Seite gleicht. Aber es gibt eine Struktur. Es gibt bestimmte Motive, wie zum Beispiel das Motiv des Telefons, das sich in Varianten immer wiederholt. Es gibt bestimmte Elemente, die immer wiederkommen, wie die Geschichten von Alexander Kluge, die auch im Layout hervorstechen und anders behandelt werden. Kluge ist der einzige, bei dem wir nicht auf Zeugnisse aus der Zeit zurückgegriffen haben, sondern die Sachen sind teilweise extra für das Buch geschrieben worden. Sie haben einen fiktionalen Anteil, der sonst nicht so deutlich wird.

Es gibt auch einen Wechsel zwischen langen textlichen Strecken und fast reinen Fotostrecken, die eher künstlerisch-dokumentarisch als journalistisch-dokumentarisch gehalten sind.

So versuchen wir, dem Buch einen Rhythmus zu geben und es zusammenzuhalten.

Es gab einen großen Materialpool und den großartigen Designer Wolfgang Schwärzler. Wir haben die Sachen über eine Skype-Konferenz gegeneinander verschoben und in Beziehung gesetzt. Das war ein sehr langer Prozess des Austestens, was mit Wort und Bild funktioniert, ohne zu illustrativ zu sein. Wir wollen Gedankenräume eröffnen. Für den Künstler war das eine hochspannende Sache, sich an ein Projekt zu wagen, das noch keiner vorher gemacht hat.

Es gibt Bezugspunkte. Das Layout orientiert sich an László Moholy-Nagy. Aus der Literatur kommt Kempowski mit dem Echolot, aus der Philosophie Walter Benjamin. Aber diese Form, die wir jetzt gefunden haben, ist zwar beeinflusst, aber vorbildlos.

Insofern ist das lustig, dass das Buch jetzt unter Sachbuch gelistet ist. Für mich ist das auch ein Kunstwerk. Es ist ein Buch, das die Gattungsgrenzen sportlich in verschiedene Richtungen überschreitet und nicht einordbar ist. Das ist vielleicht auch für den Leser, den Betrachter der Reiz. Hoffentlich.

Wie ist das mit Menschen, die die DDR und die ganze Entwicklung nur aus dem Geschichtsunterricht kennen oder nur am Rande damit in Berührung gekommen sind? Können die sich mit dem Buch in die Thematik einarbeiten, Zusammenhänge verstehen?

Ich glaube, das Buch sollte unbedingt in Schulbibliotheken liegen. Es gibt in diesem Buch fast keine Texte, die irgendeine Art von Deutung soziologischer oder philosophischer Natur enthalten.

Das heißt, du kommst wirklich an das Originalmaterial ran und bist gefordert, dich selber zu überprüfen. Es gibt eine Seite, die Seite vom 5. Februar. Eine Seite, die ich nicht zu verantworten habe, die ich aber trotzdem sehr liebe. Graphisch nicht sehr aufwändig. Zwei Fernsehbilder. Auf der linken Seite stehen die Vorgeschichte und das Problem. Die Vorgeschichte ist die, dass die PDS Angst hatte vor den Volkskammerwahlen und dachte, je länger sie mit den Wahlen warten, desto weniger Stimmen werden sie bekommen – die Thüringen Variante. Die wollten also die Wahlen vorziehen. Wir, also Neues Forum und die oppositionellen Kräfte, wollten das eher nicht. Wir waren mit unseren personellen Kapazitäten komplett gebunden durch die Runden Tische. Wir waren ja, unabhängig davon, dass wir gar nicht wussten, wie Wahlkampf geht, personell auch gar nicht in der Lage, einen guten Wahlkampf zu führen. Es gibt eine Diskussion am Runden Tisch. Am Ende der Diskussion steht, dass wir die Wahl vorverlegen, so wie die PDS das wünscht. Es steht aber auch da, dass dies eine Wahl in der DDR ist. Das heißt, der Wahlkampf soll auch in der DDR stattfinden und er soll gestaltet werden von Politikern aus der DDR. In einem souverän existierenden Staat ist das eine Selbstverständlichkeit. Dieser Beschluss wird gefasst und am selben Tag treten Fuchs und Rühe (im Buch zu sehen auf der rechten Seite) in Bonn vor die jeweiligen Parteizentralen und sagen „Genau das wird niemals passieren.“ Das wäre ja eine Einreisesperre für westdeutsche Politiker. Genauso ist es dann gekommen. Wahlkampf hat vor allen Dingen Kohl gemacht. Es gibt unten ein kurzes Statement von Wolfgang Ullmann, dem Bürgerrechtler, zu diesem Thema. Und es gibt einen Text von Boris Buden, der schnell klar macht, dass in dem Moment, in dem die Bürgerrechtsbewegungen in der Lage waren, politische Macht zu übernehmen, die ganze große Politik kommt und sagt „Ihr seid naiv, ihr seid Kinder, ihr habt keine Ahnung. Hört auf uns, wir können das.“

Jetzt sieht man auf dieser Doppelseite die Möglichkeit, die Utopie und das, was real rausgekommen ist, gemeinsam mit der Sicht eines Betroffenen und wie das auf ihn gewirkt hat. Wie man wieder zum Kind gemacht wird, wenn man plötzlich politische Macht erkämpft hat. Auf einer Doppelseite ist sehr symptomatisch und sehr komplex dargestellt, was da passiert ist. In dieser Art und Weise ist das ganze Buch aufgebaut. Es geht um Möglichkeiten, es geht um das, was rausgekommen ist und es geht darum, wie die Beteiligten sich zu diesem Zeitpunkt in diesem Prozess gefühlt haben. Welche Position jetzt die richtige ist, kann man bei einer singulären Lesart nicht entscheiden. Aber wenn man alle drei Sichten zusammennimmt, kommt man vielleicht auf irgendetwas, was eine geschichtliche Wahrheit ist.

Das finde ich das Spannende an dem Buch, und so etwas kann eine normale historische Betrachtung nicht liefern.

Das Buch hat keine Kapitel, es folgt einer Chronologie, die ihr in Form von bestimmten Daten anstelle von Kapiteln gesetzt habt. Warum genau diese Daten?

Es sind Daten, von denen wir das Gefühl hatten, dass sich da symptomatisch Sachen darstellen lassen, die für das Jahr wichtig sind. Wie eben zum Beispiel dieser 5. Februar. Das ist ein Datum, das historisch gesehen nichts ist. Wenn man jetzt einen Wissenschaftler fragen würde: „5. Februar 1990?“, würde er sicher scheitern. Aber das ist ja das Lustige. An einem so verborgenen Tag etwas Symptomatisches aufdecken zu können. Geschichte funktioniert ja ganz oft eben nicht an den entscheidenden Daten, sondern es gibt ein Vorher und Nachher an eher verborgenen Daten. Wenn man mal von solchen Daten wie Tag des Mauerfalls absieht.

Aber muss ich nicht trotzdem von vorne anfangen, um beispielsweise diese Doppelseite vom 5. Februar zu verstehen?

Muss man nicht zwangsläufig. Man kann sich da reinlesen, dann bekommt man etwas mit. Man kann sich zum Beispiel auch in die Treuhandgeschichte einlesen oder in die Wiedervereinigung, die sehr komplex ist. Das geht los mit der Geschichte des russischen Soldaten, der jetzt nicht mehr nach DDR-Recht, sondern nach bundesdeutschem Recht verurteilt wird, was eine deutlich geringere Strafe war. Für ihn also sehr sinnvoll. Und es endet mit Fritz Pleitgen, der da meint, die DDR-Bürger seien wie Tiefseefische, die, wenn sie aus den hohen Druckverhältnissen befreit werden, irgendwie deformiert sind. Deswegen taucht in der Bildleiste ein russischer Soldat auf, die Wiedervereinigungsfeier selber, die Tiefseefische tauchen als Bilder auf und am Ende steht das totale Besäufnis zur Wiedervereinigung, das Ute Mahler so schön fotografiert hat. Auch da, ein sehr komplexes Stimmungsgemenge und in der Wiedervereinigung angelegt das Problem, das uns heute so beschäftigt: Es tauchen sowohl von Gerhard Gäbler als auch von mir fotografierte sehr deutliche Manifestationen von Nazis auf. Was logisch ist, wenn man diese Wiedervereinigung, die ja vor allem Helmut Kohl vorangetrieben hat, vor allen Dingen als einen nationalen Prozess im Sinne eines national deutschen Prozesses anlegt. Damit will ich nicht sagen, dass Kohl ein Nazi war, das ist Quatsch. Aber dieses so deutsche Forcieren der ganzen Geschichte hat natürlich diese Leute aufgeweckt und hat denen Rücken­wind gegeben.

Im Pressetext steht, das Buch beschäftige sich mit den verschiedenen Aspekten des Jahres 1990 und ihrer Aktualität. Wie aktuell ist das Jahr 1990?

Ich denke, dass viele Probleme, die wir heute haben, keine Probleme sind – wie es teilweise dargestellt oder geglaubt wird – die aus der Existenz der DDR hervorgerufen wurden, sondern die Probleme oder das, was die Leute heute umtreibt und so verrückt macht, sind die Probleme der Wiedervereinigung und deren nicht aufgearbeiteten Geschichten. Das, was aus der DDR heute negativ nachwirkt, ist mit Sicherheit der Punkt, dass auf eine merkwürdige Art und Weise diese Nazivergangenheit nicht wirklich aufgearbeitet wurde, so wie in der Bundesrepublik. Dass in der DDR niemand gefragt hat, was die Großeltern gemacht haben. Faschismus wurde zwar abgelehnt, aber persönlich aufgearbeitet nicht. Das hängt sicher in den ostdeutschen Ländern in der Bundesrepublik als eine negative Erfahrung nach und ist vielleicht auch einer der Punkte, die jetzt die AfD so stark machen. Aber ansonsten sehe ich überwiegend Probleme aus der Zeit der Wiedervereinigung und nicht mehr aus der Zeit der DDR, die jetzt nachwirken.

Sollen mit dem Buch westdeutsche- und/oder ostdeutsche Erzählungen über die DDR korrigiert werden?

Korrigieren ist so ein großer Anspruch. Ich bin kein Korrekturleser. Vielleicht geht es mehr darum, Zusammenhänge überhaupt erstmalig in ein Buch zu bringen. Was die richtige historische Wahrheit ist, ist philosophisch eine schwierige Kategorie. Wenn man aufmerksam liest, und das ist das Wichtige an dem Buch, ist es vielstimmig. Das heißt, sowohl bei den Autoren als auch den Fotografen gibt es Leute aus dem Westen und aus dem Osten, es gibt Ossis, die in den Westen gegangen sind, zurückgekommen sind, und so weiter. Das Buch ist also – Gott sei Dank – kein reines Buch von Ossis für Ossis. Dass es im Osten vielleicht stärker wahrgenommen wird als im Westen, liegt irgendwie in der Natur der Sache. Aber es ist nicht so angelegt.

Ein Buch wie eine Therapiedecke. War es das auch? Hat sich durch die Arbeit daran etwas gelöst?

Wahrscheinlich war das durchaus so etwas wie eine Therapie für mich. Ich war bis zu der Installation nicht mehr in Leipzig gewesen, das heißt von 1993 bis 2017, weil das die Stadt meiner politischen Niederlage war. Oder so habe ich das damals gesehen. Jetzt musste ich durch diese Zeit noch mal durch und habe auch ordentlich gelitten. Aber ich denke, ich kann jetzt entspannter über diese Zeit reden und auch ohne Zorn. Ich habe schon über die Arbeit an dem Buch in gewisser Weise meinen Frieden damit gemacht und bin auch Jan und Anne sehr dankbar, dass sie mich mitgenommen haben und wir das so intensiv gemacht haben.

Es führt einen, egal wo man herkommt, an die eigene Lebensgeschichte.

Und wenn es das erreicht, sind wir auch irgendwie glücklich. Das war das Ziel. Aber als Künstler macht man so ein Buch nicht nur, weil man irgendein pädagogisches Ziel hat. Sondern du machst es, weil dich die Form reizt, weil dich die Auseinandersetzung reizt, weil dich die Unmöglichkeit des Projektes reizt.

Seiner Intention zu folgen, so etwas zu machen, obwohl es eigentlich nicht geht.

Vielen Dank, Andreas Rost.

Doppelseite aus dem Buch „Das Jahr 1990 freilegen“, Seite 520 bis 521

 

Andreas Rost 1990, Alexanderplatz Berlin
© Privat

Andreas Rost, geboren 1966 in Weimar, schloss 1993 sein Fotografie-Studium bei Arno Fischer und Evelyn Richter an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig ab. Seitdem arbeitet er als Fotograf sowie als Dozent für Fotografie für nationale und internationale Institutionen. Seit 2001 ist er als Kurator tätig, u.a. für c/o Berlin, Spector Books, das GoetheInstitut und das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), an dem er seit 2008 ifa-Representative for Photography ist. Neben zahlreichen weiteren Publikationen veröffentlichte er 2015 den Fotoband Der Unbekannte – Oscar Niemeyer in Algiers im Verlag für Moderne Kunst. Obgleich er lieber die Stasi-Bezirksverwaltung besetzt hätte, saß er ab dem 4. Dezember 1989 bis Mai 1990 am Runden Tisch, um die ersten freien Wahlen in der DDR vorzubereiten.

Kristina Frick, geboren 1980 in Wiesbaden, ist Fotografin, Autorin und Übersetzerin und lebt in Berlin. 2019 erschien ihr Fotobuch „Ich hab von ihm geträumt und von Affen“. Ausstellungen in Berlin, Istanbul, Potsdam. Mitglied des fotografischen Kolloquiums Kreuzberg.

 

DAS JAHR 1990 FREILEGEN 

Hrsg. Jan Wenzel, Editorial Team: Jan-Frederik ­Bandel, Anne König, Christin Krause, Elske Rosenfeld, Andreas Rost, Wolfgang Schwärzler, Monique Ulrich, ­Anna Magdalena Wolf, 592 Seiten, Spector Books, 2019, 36,00 Euro


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