Gabriele von Arnim, Das Leben ist ein vorüber gehender Zustand, Rowohlt, 2. Aufl. 2021, geb. m. SU, 240 S., ISBN 978-3-498-00245-9, € 22,00.
Es geschieht, heißt eine Kapitelüberschrift: Gabriele von Arnim kommt nach einer Reise nach Hause und erklärt ihrem Mann, dass sie sich von ihm trennen wird, sie habe ihn verloren. Spät am Abend: ein Anruf aus der Charité, ihr Mann sei zusammengebrochen. Der erste Schlaganfall, gefolgt von einem zweiten und einer Blutung, die dann letztlich einen Gelähmten zurücklässt. Alles, der wache Geist, die kritische Analyse, die Freude am Diskurs, sind erhalten geblieben. Aber die Ausdrucksmöglichkeiten fehlen: die Muskulatur, die das Sprechen erlaubt, ist gelähmt. Seine Laute sind kaum zu verstehen und erst nach vielen Lernprozessen für seine Frau und seine Pflegerin interpretierbar.
Wie so eine Geschichte erzählen? Gabriele von Arnim schreibt über „es“, ein Vorschlag ihrer Freundin, und nicht über sich oder ihren Mann. Sie schreibt Geschichten über das gemeinsame Leben in diesem „es“-Ereignis. Es sind Geschichten von einem trotz aller inneren Widerstände um ein würdiges Leben kämpfenden Paares. Es ist die Geschichte eines Gepflegten und einer Pflegenden, wie sie sich heute in vielen Beziehungen abspielt. Und doch ist es keine übertragbare, sondern eine individuelle Geschichte, die dem zu Pflegenden in diesem Fall die Würde lässt und gleichzeitig mit nahezu schonungsloser Offenheit die Gefühlswelt der Pflegenden beschreibt.
Hier stehen nicht der pflegerische Aufwand oder der zu pflegende Mensch im Vordergrund, sondern die Hoffnungen und die Zweifel desjenigen, den das Schicksal gesund gelassen hat, und der sich nun vor die Aufgabe gestellt sieht, einen schwer kranken, geliebten Menschen so zu begleiten, dass gemeinsames Leben und Erleben möglich sind. Wo ist die Grenze zwischen liebender, vorsichtiger Pflege und ungeduldigen Ratschlägen oder Vorwürfen an den Kranken? Es war nicht idyllisch. Er war nicht das Schaf und ich nicht die liebliche Hirtin. Er hat gewütet ich habe gefaucht.
„Es“ beginnt mit dem Ereignis, das den Zustand der beiden für die kommenden zehn Jahre bestimmt: Schlaganfall und Hirnblutung. Sie lässt ihn nicht los, wohl wissend auf was sie sich einlässt. Ich will ihn behalten aber darf ich das wollen, gegen seinen Willen? Sie beschreibt, wie sie ihren Mann vom Krankenhaus in die Reha und dann nach Hause begleitet. Ein zu Hause, das ihm helfen soll, einen Weg aus der Krankheit zu finden, in kleinen Schritten, mit vielen Hilfen und Rückschlägen, um am Ende einsehen zu müssen, dass „es“ bleibt. Der Gepflegte kämpft um jede Kleinigkeit, um seinen Zustand zu verbessern. Es ist dieses Nichtaufgeben, dieses gegen alle inneren Widerstände ankämpfen, das den Pflegenden das Gefühl einer Verbundenheit vermitteln kann.
Sie verändert die Wohnung, um sie für ihren Mann wohnlich zu machen. Wohnung als Heimat. Wohnen als nachgeholte Lebenswärme. Wohnen mit einem Menschen, der dieses auch im Zustand seiner Krankheit erleben kann und für den anderen gemeinsam erlebbar macht. Räume, so schreibt sie, die auf Erinnerungen warten, auf gelebtes Leben und auf Geschichten, die sie bewahren.
In der Geschichte Wirklichkeit und Wahrnehmung betrachtet sie sich immer wieder von außen, sieht ihre Geschichte aus der Distanz und doch mit tiefer Emotionalität. Liebe muss sein, schreibt sie. Muss sein, damit das Paar das zusammen geknebelt sein in der Krankheit erträgt. Den Ausgelieferten lieben, damit sie die kalte Zumutung der Krankheit mit Wärme füllen, sie eher ertragen kann. Ich hatte kein Vorbild für unsere Situation, kein Fundament, keine Erfahrung, kein Wissen. Wenn es kein Hineinwachsen in diese Situation gibt, sondern ein Hineinstürzen, dann ist das der freie Fall, in dem man sich und den anderen zu halten versucht. Sie schreibt, und das ist hilfreich für Menschen in ähnlicher Lage, dass man ungeduldig, zornig, verzweifelt, wütend sein darf, weil es zurück in das eigene Ich führt. Wie weit ist man bereit auf das eigene Leben zu verzichten, wie weit geht die Unterordnung, wie weit die Kontrolle des eigenen Zorns, der Schuldzuweisung und der Erfahrung des mitschuldig Fühlens? Gabriele von Arnim lässt Teilhabe zu an diesem Kreisen um das eigene Ich und das des kranken Gegenübers. Und sie zeigt Wege, mit diesen inneren Zerwürfnissen fertig zu werden.
Am Ende schreibt sie ohne Selbstmitleid oder Pathos über die Trauer um ihren Mann, den Verlust an Aufgaben, die Einsamkeit, die Versuche sich neu zu erfinden, das Erleben, dass das Atmen des anderen fehlt und dass in dem Moment, in dem es kein Wir mehr gibt, auch das Ich verschwindet. Und sie beschreibt den Weg aus der Traurigkeit. Sie will den Schmerz, seine Lebendigkeit, und sie will verletzlich bleiben, stark und zart. Sie macht denen Mut, die sich in vergleichbarer Situation befinden, egal auf welcher Seite. Wir brauchen Geschichten, um das Leben zu verstehen, schreibt Gabriele von Arnim am Ende dieses beeindruckenden Buches. (hb)
Prof. (em.) Dr. med. Hans Konrad Biesalski hans-k.biesalski@uni-hohenheim.de