Wissenschaftsgeschichte

Conrad Gessner

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2017

Urs B. Leu: Conrad Gessner (1516−1565). Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance. Verlag Neue Züricher Zeitung, Zürich 2016, 463 S., 73 Abb., ISBN 978-3-03810-153-6, € 49,40

In modernen Zeiten, in denen selbst das Wissen einer einzigen Disziplin kaum überschaut werden kann, sind Universalgelehrte eine längst ausgestorbene Spezies. Und diejenigen, die als solche verehrt wurden, wie der große Schweizer Naturforscher, Enzyklopädist, Altphilologe, Arzt und Humanist Conrad Gessner (auch Konrad Gesner oder Geßner), geraten nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch in den Wissenschaften zunehmend in Vergessenheit.

Die letzte deutschsprachige Gessner-Biographie wurde 1824 von dem Winterthurer Pfarrer und Oberlehrer Johannes Hanhart (1773-1829) veröffentlicht. Eine angemessene aktuelle Würdigung von Gessners Werk blieb seitdem ein Desiderat. „Geßner ist heute ebenso berühmt wie im Grunde genommen unbekannt“, klagte der Zürcher Medizinhistoriker Bernhard Milt in seinem Beitrag Conrad Gessner und Paracelsus (in: Schweiz. Med. Wschr. 1929, Nr.18/19). Dieses resignierende Fazit teilte Gernot Rath, sein Münchner Kollege, noch 36 Jahre später in einer Kurzbiographie zu Gessners 400. Todestag (s. Schweizer Monatshefte 1965, Bd. 49, H. 9, Sonderbeilage, 24 S.), obwohl zwischenzeitlich Gessners Nachlass zu Disziplinen wie der Balneologie, Pharmazie, Psychiatrie, Ophthalmologie untersucht worden war.

Vor zwei Jahren wollte Franz M. Wuketits in seinem Buch Aussenseiter der Wissenschaft. Pioniere – Wegweiser – Reformer (s. FBJ 4/2015, S. 15-18) noch jede Wette eingehen, „dass in den Curricula unserer Universitäten – außer in sehr speziellen Vorlesungen und Seminaren – Konrad Gessner nicht vorkommt“.

Das könnte – und sollte − sich durch die hier angezeigte voluminöse Gessner-Biographie ändern, die Urs B. Leu, renommierter Historiker für frühneuzeitliche Buch-, Kirchen- und Wissenschaftsgeschichte, rechtszeitig zum 500. Geburtstag des Zürcher Gelehrten vorgelegt hat. Der Leiter der Abteilung Alte Drucke und Rara der Zentralbibliothek Zürich hat aus unzähligen Quellen Details über Gessners Leben und wissenschaftliches Werk zusammengetragen und, was Bibliophile besonders freuen wird, auch mit einzigartig ästhetischen, zeitgenössischen Zeichnungen und Drucken illustriert.

Urs Leu geht in unterhaltsamem Erzählstil zunächst auf die Jugend- und Studentenjahre des Protagonisten ein. Einige Stationen seien hier rekapituliert: Conrad Gessner wurde am 16. März 1516 als Sohn des Kürschners Urs Gessner in Zürich geboren. Bis zu seinem 5. Lebensjahr wuchs er in den ärmlichen Verhältnissen seiner kinderreichen Familie auf. Das änderte sich 1521, als ihn sein Großonkel, der Zürcher Großmünster-Kaplan Johannes Frick, als Kostgänger aufnahm. Damals ließ sich noch nicht erahnen, dass der aufgeweckte Bub einst zu den großen Söhnen seiner Heimatstadt zählen würde, dass Conrad Gessner als „Leonardo da Vinci der damaligen Eidgenossen“ (s. Leu, S. 9), als Inbegriff von Gelehrsamkeit, unstillbarem Wissensdurst und unermüdlichem Fleiß in die Wissenschaftsgeschichte eingehen würde.

Die Weichen dafür wurden gestellt, als Johannes Frick ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm den Besuch der Deutschen Schule finanziert. Gessner erinnert sich im Vorwort seines 1542 veröffentlichten Catalogus plantarum an diese glückliche Jugendzeit: „Dieser [J. Frick …] führte mich zuweilen ins Freie und lehrte mich sein reich bepflanztes Gärtchen zu pflegen. Dort brachte er mit mir die Erholungsstunden zu und sagte mir die Namen der darin befindlichen Pflanzen so oft vor, dass ich ihm auf Befehl jede, die er nannte, aus dem Garten oder vom Feld sogleich bringen konnte“ (s. Leu, S. 16). Seine Liebe zu den Pflanzen bewahrt Gessner zeitlebens, wie die während seines letzten Jahrzehnts unvollständig verfasste und erst posthum erschienene Historia plantarum zeigt. 1524/25 wechselt Gessner in die Zürcher Lateinschule und wohnt bei dem Humanisten und Reformator Oswald Myconius (1488-1552), der Gessners Ausnahmebegabung erkennt und ihn außerhalb der Schule von den älteren Hausgenossen in Griechisch und Hebräisch unterrichten lässt.

Als 13-Jähriger wechselt Gessner in den Haushalt des Chorherrn Johann J. Ammann (1500-1573), der an der vom Reformator Huldrych (Ulrich) Zwingli (1484−1531) gegründeten Schola Tigurina altphilologische Sprachen lehrt. In der humanistisch geprägten Bildungskultur Zürichs und eingebettet in die lokale Gelehrtenwelt kann Conrad Gessner seine intellektuellen Fähigkeiten voll entfalten. Als er im März 1531 als Stipendiat aufgenommen wird, steht einer verheißungsvollen Karriere nichts mehr im Wege. Doch das Jahr endet in einer Katastrophe, als Gessners Vater und Zwingli im Kappeler Krieg umkommen. „Jeglicher Stütze beraubt, stand der begabte Jüngling nun völlig einsam und ohne Perspektive vor einer sich düster gestaltenden Zukunft“ (s. Leu, S. 27). Durch die Empfehlung seines ehemaligen Mentors Myconius findet der erst 16-Jährige im Juni 1532 als Adlatus beim Straßburger Reformator und Hebraisten Wolfgang Capito (1478−1541) Unterkunft und Auskommen. Aber die ständigen Dienstleistungen plagen ihn. „Keine Stunde, ja kein Augenblick im Tag findet sich, den ich mein nennen kann, an dem ich frei mich den Wissenschaften weihen kann“ (s. Leu, S. 30), lamentiert er in einem Brief an Zwinglis Nachfolger, Heinrich Bullinger (1504−1575). Er bittet ihn um ein Auslandsstipendium. Nach nur fünf Monaten verlässt er Straßburg wieder, aber das erhoffte Stipendium lässt auf sich warten. Erst im Februar 1533 wird die nicht gerade üppige Unterstützung bewilligt, die ihn nach Paris, dann nach Bourges und wieder über Paris nach Straßburg führt, wo er sein Hebräisch vertieft, sich der intensiven Lektüre antiker Ärzte widmet und damit den Grundstock für seine spätere Bibliotheca universalis legt. Aber es ist eine Phase der Orientierungslosigkeit; in seiner Autobiographie von 1545 findet er selbstkritische Worte, indem er bemerkt, dass „es schädlich ist, Heranwachsende sich und ihrem Gutdünken zu überlassen ohne einen Phönix, der bisweilen ermahnt und belehrt….“ (vgl. Leu, S. 39). In diesen Wanderjahren verliebt sich der 19-Jährige unsterblich in eine hübsche junge Frau namens Barbara Singysen. Nun ist verliebt zu sein ja nichts Ungewöhnliches in diesem Alter, doch Gessner zieht sich großen Unmut seiner Mäzene zu, da er Hals über Kopf heiratet. Gessner bleiben nur noch die Rückkehr nach Zürich und eine frustrierende Lehrtätigkeit in der Elementarschule sowie ein karges Zubrot durch Publikationen. Doch dank der Fürsprache von Bullinger erhält der mittlerweile 21-Jährige eine Professorenstelle für Griechisch an dem neu gegründeten Collège in Lausanne. Während drei glücklicher Jahre in der Westschweiz veröffentlicht Gessner seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten, darunter ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis von Pflanzen und ihren Heilwirkungen sowie ein nützliches Werk für Apotheker und ein 300-seitiges Verzeichnis von Pflanzennamen in griechischer, lateinischer, deutscher und französischer Sprache. Leu erläutert, „dass es sich dabei um thematisch geordnete Sammlungen von Lesefrüchten Gessners handelt, sogenannte LociSammlungen, die er ausführte und veröffentlichte“ (S. 63). Trotz seiner Lausanner Lehrtätigkeit verfolgt Gessner das Ziel, sein Medizinstudium abzuschließen, legt 1540 seine Professur nieder, um sein Studium in Montpellier fortzusetzen. Enttäuscht von den Vorlesungen, wechselt er bald nach Basel, wo er mit 25 Jahren promoviert. Es beginnen magere Jahre als schlecht bezahlter Arzt und Professor physicus in seiner Heimatstadt. Er, der selbst kinderlos blieb, muss seine kränkliche Frau und betagte Mutter ernähren und auch die weitere Verwandtschaft unterhalten. Gessner forscht und publiziert wie ein Getriebener, und zwar „… nicht nur aus Interesse, sondern auch darum, weil der Autor damit sein Gehalt aufzubessern suchte“ (s. Leu, S. 94). Auch nach seiner Berufung zum Oberstadtarzt ändert sich seine materielle Lage nicht, sondern erst als er eine Chorherrenstelle am Großmünster erhält; da ist er 42 Jahre. Sieben Jahre später, am 13. Dezember 1565, erliegt er in seinem Studierzimmer der grassierenden Pest und hinterlässt ein gewaltiges Werk.

Urs Leu hat Gessners Werk und seine Arbeitsweise souverän erschlossen, dokumentiert und kommentiert. Im Kapitel Die Welt der Bücher beschreibt er, wie „die relativ junge Welt des gedruckten Buchs“ (S. 127), die in der frühen Neuzeit rapide zur Wissensverbreitung beitrug, Gessner faszinierte und den polyglotten Altphilologen zur 1264 Folioseiten umfassenden Bibliotheca universalis (1545- 48) inspirierte, um „sich so einen Weg durch die Textflut zu bahnen“ (S. 136). Es folgten mit dem Pandectum libri und den Partitiones theologicae bald weitere voluminöse Werke, und man fragt sich, woher Gessner die Zeit und Kraft für diese Kärrnerarbeiten hernahm.

Die noch erhaltene Korrespondenz belegt, dass der Gelehrte ein großes, europaweites Netzwerk zu Kollegen und Druckern (damals war das Druckergewerbe noch eine Kunst!) unterhielt. Nur dadurch wurden so gigantische Enzyklopädien wie die Historia animalium, die mit ihren Abbildungen auch neue visuelle Maßstäbe setzte, möglich. Mit dem Kapiteltitel Thierbücher − Arche Noah der Renaissance unterstreicht Urs Leu, dass es Gessner vorrangig darum ging, die wunderbare Vielfalt der Schöpfung Gottes zu zeigen. Die Natur war für ihn die zweite Offenbarung, denn „[D]as Studium der Natur mündete zwangsläufig in der Anbetung des Schöpfers…“ (S. 177).

Gessner war ein begnadeter Sammler und Kompilierer, der neben den bereits erwähnten Werken auch ein erfolgreiches medizinisches Rezeptbuch, den Thesaurus Euonymi Philiatri (1552), sowie einen lateinischen Katalog über „Einige Bücher über die Beschaffenheit ausgegrabener Gegenstände, über Edelsteine, Steine, Metalle und derlei Dinge“ (S. 367) verfasste.

In Mithridates (1555) spekulierte er über die Ursprünge der Sprache, und als Alpenwanderer machte er sich in seiner Descriptio Montis Fracti sive Montis Pilati … (1555) Gedanken zur Pflanzengeographie. Dass Gessner Experimente und Autopsien an Tieren durchführte, Pflanzenversuche machte und auch nicht vor pharmakologischen Eigenexperimenten zurückschreckte, rundet das Bild dieses ständig Fragenden und Forschenden ab.

Gessner war nach Urs Leu der, „Repräsentant einer Epochenschwelle, die man mit den Begriffen Humanismus, Renaissance und Reformation zu umschreiben versuchte und die man als Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit bezeichnet“ (S. 9). Die vorliegende Biografie zeigt exemplarisch, dass es sich lohnt, große Gestalten der Wissenschaftsgeschichte, selbst wenn ihre Wirkung verblasst ist, nicht ganz zu vergessen, sondern ihr Leben und Werk zu erkunden, auch um zu erfahren, was ihre intrinsische Motivation beflügelte und was die Ingredienzien ihrer imponierenden Kreativität, ihrer außergewöhnlichen Schaffenskraft und ihres wegweisenden Einflusses auf ihre Zeitgenossen und die Nachwelt waren. Uns Gessners Persönlichkeit, sein beeindruckendes Werk sowie das Denken seiner Zeit umfassend näher gebracht zu haben, dafür gebührt dem Autor Dank und hohe Anerkennung! (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direk tor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

henkew@uni-mainz.de

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