Volkswirtschaft

China, Demographischer Wandel, Kapitalismus und Migration

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2021

Die Autoren Charles Goodhart und Manoj Pr ­ adhan diagnostizieren eine Zeitenwende in dem Sinne, dass die vom Eintritt Chinas in die Weltwirtschaft in den 1980er-Jahren induzierte Globali ­ sierung mit ihrem Druck auf Löhne und Preise derzeit ihren Zenit erreicht und wegen des demographischen Wandels von einer Periode knapper werdender Arbeitskräfte und steigender Löhne und Preise abgelöst werden wird. In dieser kommenden Zeit werden nach Branko Milanovic die Supermächte USA und China mit ihrer jeweiligen Art von Kapitalismus, dem liberalen in den USA und dem politischen in ­China, um die Vorherrschaft in der Welt konkurrieren, mit durchaus offenem Ende. Die „offene Flanke“ des liberalen Kapitalismus sieht Milanovic in dessen Ungenügen, der Zunahme und der Verfestigung von Ungleichheit entgegen zu wirken, sodass die Zustimmung der Globalisierungsverlierer zu diesem System schwindet. Zu seinen Vorschlägen gehört, die Zuwanderung in die Länder des „globalen Nordens“, in dem die Globali ­ sierungsverlierer leben, zu begrenzen. Mit diesem Vorschlag befindet er sich in schroffem Gegensatz zur Botschaft von Uwe Hunger und Stefan Rother, die – umgekehrt – einer Zunahme internationaler Migration das Wort reden.

Charles Goodhart, Manoj Pradhan, The Great Demographic Reversal. Ageing Societies, Waning Inequality, and an Inflation Revival. Palgrave Macmillan, 2020, XX, 260 Pages, 4 b/w illustr., 80 illustr. in ­colour, Hardcover, ISBN 978-3-030-42656-9, € 26,00.

Charles Goodhart, 85, emeritierter Professor der London School of Economics, ist ein bekannter Ökonom, der vornehmlich zur Geldtheorie und -politik geforscht hat. Manoj Pradhan, ebenfalls 85, ist Ökonom und war als Managing Director Leiter des Global Economics Team bei Morgan Stanley.

Die Autoren starten mit vier nicht-kontroversen Beobachtungen: Die Integration Chinas ab 1980 und Osteuropas ab 1990 in die Weltwirtschaft ergänzt um den Eintritt der Babyboomer in den Arbeitsmarkt und die höhere Erwerbstätigkeit der Frauen. Diese vier Faktoren zusammengenommen, dominant jedoch die Weltmarktintegration Chinas, führten zu einer Verdopplung des weltweiten Angebots an Arbeitskräften im Produktionsbereich der handelsfähigen Güter.

Was waren die ökonomischen Folgen? Das in so kurzer Zeit historisch beispiellos gestiegene Arbeitsangebot führte in den westlichen Ländern unvermeidlich zu einem Druck auf die Löhne im Bereich der der chinesischen Konkurrenz besonders ausgesetzten einfachen Arbeit, zu steigenden Löhnen der gut Qualifizierten und zu steigenden Kapitalrenditen. Die Ungleichheit innerhalb der Länder nahm zu, die Ungleichheit zwischen den Ländern wegen des Aufholens Chinas und anderer Schwellen- und Entwicklungsländer ab. Da der zweite Effekt den ersten dominierte, nahm auch die globale Ungleichheit ab. Das sinkende Lohnkostenniveau ließ in den Industrieländern die Inflationsrate und mit ihr die Nominalzinsen sinken. Aufgrund des gewachsenen Arbeitsangebots konnten weltweit Produktion und Volkseinkommen steigen und die wachsenden Steuereinnahmen verbesserten die Lage der öffentlichen Haushalte beträchtlich. Es waren, wie Mervin King, der britische Zentralbankpräsident, sagte, „NICE years“ (Non-Inflationary years of Continuous Expansion). Nicht einmal die im Zuge der Bekämpfung der Finanzkrise 2008 betriebene massive Geldschöpfung und die begleitende, schuldenfinanzierte Finanzpolitik konnten den sinkenden Trend von Inflationsrate und Zins umkehren.

Neben den positiven ökonomischen Folgen sind jedoch in den letzten 30 Jahren in den westlichen Ländern auch vermehrt die negativen sozialen und politischen Folgen dieser Entwicklung zutage getreten. Dazu gehören Wohlstandsverluste von Arbeitskräften mit niedrigen Einkommen, das Erstarken populistischer Parteien sowie ein weltweiter Ansehensverlust der liberalen Demokratie.

Die Zeit des wachsenden Arbeitsangebots ist aber nun zu Ende, Umkehrtendenzen zeichnen sich bereits ab: Die Verlierer der stürmischen Globalisierung begehren in Westeuropa und den USA auf, und in China wird die ­extreme Exportorientierung der Produktion zurückgefahren. Der Übergang der Babyboomer in das Rentenalter wird die Zahl der Erwerbstätigen in Europa deutlich sinken lassen. Die demographische Entwicklung kehrt sich weltweit um und das globale Arbeitsangebot schrumpft. Es ist daher für die nächsten 30 Jahre im Vergleich zu den vergangenen 30 Jahren eine Entwicklung mit umgekehrtem Vorzeichen zu erwarten: Arbeit wird knapp, die Löhne werden steigen, die Ungleichheit wird geringer, die Inflationsrate wird, dem Lohnkostendruck folgend, steigen und die Zinsen werden folgen. Das sind die Prognosen, die im Titel des Buches genannt sind.

Die Autoren setzen sich, mögliche Kritik an ihren Thesen antizipierend, mit der Frage auseinander, warum in Japan, wo der demographische Wandel am weitesten fortgeschritten ist, nichts von den prognostizierten Wirkungen zu sehen ist. Inflationsrate und Zins sind immer noch niedrig, trotz knapper gewordener Arbeit und extrem hoher Staatsverschuldung. Sie gehen ferner der Frage nach, ob vielleicht Afrika das neue China werden und seine rasch wachsende Bevölkerung ebenso in die Weltwirtschaft integrieren könnte, wie es China mit der Arbeitskräftewanderung von der überbesetzten Landwirtschaft in die Industrie gelang.

Sie legen auch dar, dass und inwiefern sie vom ökonomischen Mainstream-Denken abweichen. Der Mainstream behauptet, so sagen sie, aufgrund der demographischen Entwicklung werde vorsorgend für das Alter mehr gespart und weniger konsumiert. Zur Kompensation des Ausfalls an Konsumnachfrage sei eine höhere, schuldenfinanzierte Staatsnachfrage vonnöten. Die Inflation bleibe zu niedrig, wenn nicht die Zentralbanken durch Staatsanleihenkäufe mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpen. Das sehen Goodhart und Pradhan ganz anders: Sie legen überzeugend dar, dass und in welchem Umfang die mit der Alterung der Gesellschaften einhergehenden Erkrankungen, insbesondere die Demenz, zusätzliche Ausgaben erzwingen, die keinerlei Raum für mehr zusätzliche private Ersparnis lassen. Zudem schätzten in Umfragen Interviewte sowohl das Risiko, an Demenz zu erkranken, als auch die erwartete Kostenbelastung, falls die Erkrankung tatsächlich eintreten sollte, unrealistisch niedrig ein und sparen deshalb zu wenig. Auch werde das infolge der steigenden Lebenserwartung eigentlich erforderliche zusätzliche Sparen in der Rentenversicherung durch Verlängerung der Arbeitszeit oder Kürzung der Renten nicht durchgesetzt, wie die Rücknahme der schon beschlossenen Arbeitszeitverlängerung in Deutschland und die Gelbwestenproteste in Frankreich gezeigt hätten. Stattdessen sei, wie bei der Finanzierung von Krankheitskosten, damit zu rechnen, dass die Fehlbeträge durch öffentliche, kreditfinanzierte Budgetmittel ausgeglichen werden, wodurch die Staatsverschuldung steige. Und diese ist weltweit derzeit schon höher als sie je zuvor in Friedenszeiten war. Kommt es dann zu der von den Autoren prognostizierten Erhöhung der Inflation, können die Zinsen von den Zentralbanken zur Bekämpfung der Inflation nicht angehoben werden, weil dies den Konkurs vieler überschuldeter Staaten bedeuten würde, der derzeit nur durch die Nullzinsen auf neu emittierte Staatsanleihen noch nicht sichtbar ist.

Die Ausführungen der beiden Autoren sind knapp und prägnant und auch für Nicht-Ökonomen leicht verständlich. Der von ihnen prognostizierte Umschwung von Globalisierung, Lohn- und Inflationsentwicklung ist gut begründet, ebenso ihre These von den horrend steigenden Kosten der Alterung. Sie fürchten, dass es den Geld- und Finanzpolitikern letztlich am Willen fehlen wird, den daraus drohenden Gefahren für Geldwert und solide Staatsfinanzen mit den erforderlichen, unpopulären Maßnahmen entgegenzutreten. Die Zukunft wird zeigen, ob ihre Befürchtungen sich realisieren. Die Leser des Buches werden davon überzeugt sein.

Branko Milanović, Kapitalismus Global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht. Suhrkamp Berlin 2. Aufl. 2021, 404 S., geb. m. SU, ISBN 978-3-518-42923-5, € 26,00. [Deutsche Übersetzung der englischen Originalausgabe „Capitalism, Alone. The Future of the System That Rules the World”, Harvard University Press, Cambridge/Mass. und London 2019 von Stephan Gebauer]

Branko Milanović, geb. 1953, hat in Belgrad Wirtschaftswissenschaften studiert und danach mehr als 20 Jahre als Economist bei der Weltbank gearbeitet, zuletzt als Leiter der Forschungsabteilung. Wissenschaftlich ist er durch seine empirischen Arbeiten zur ökonomischen Ungleichheit hervorgetreten. Seine Bücher, die sich an eine breitere Leserschaft wenden, sind vielfach ausgezeichnet worden. Er hat an zahlreichen renommierten Universitäten Gastprofessuren innegehabt und wirkt derzeit am Graduate Center der City University New York.

In der vorliegenden Arbeit beschreibt, analysiert und evaluiert Milanovi´c den derzeitigen Kapitalismus und dessen Zukunftsfähigkeit. Er verficht die Idee, dass beide, die Staatswirtschaft Chinas wie auch die Marktwirtschaften der USA und Europas, kapitalistische Wirtschaftsordnungen seien. Mit dieser Etikettierung bleiben dann in der Tat kaum noch Volkswirtschaften übrig, die als nicht-kapitalistisch bezeichnet werden können.

Das Buch enthält vier Hauptkapitel: Die Kapitel 1 und 2 behandeln die – nach Milanovi´c – beiden Prototypen des Kapitalismus, den „liberalen meritorischen Kapitalismus“ der USA und den „politischen Kapitalismus“ Chinas. Der Kapitalismus in den USA ist im Sinne Milanovićs „meritorisch“, weil die Freiheit gewährleistet, dass „über den beruflichen Aufstieg vornehmlich das Talent entscheidet“, er ist „liberal“ (in dem US-Sinne des Wortes), weil Erbschaftssteuern und kostenfreie öffentliche Bildung „die Übertragung von Vorteilen von einer Generation auf die andere einschränken“. Der „politische Kapitalismus“ Chinas ist nach Milanović durch drei Elemente charakterisiert: „Effiziente Bürokratie (Verwaltung), fehlende Rechtsstaatlichkeit, Autonomie des Staates (im Sinne des Machtmonopols der Partei, K.S.).“ Kapitel 3 zeigt, wie der Kapitalismus die Globalisierung in den letzten 30 Jahren vorangetrieben hat und – umgekehrt – welche Veränderungen die Globalisierung in den beiden kapitalistischen Regionen herbeigeführt hat. Kapitel 4 schließlich beinhaltet einige Spekulationen über die Zukunft des globalen Kapitalismus.

Es kann hier nur auf einige wenige, besonders interessante Aspekte des Buches hingewiesen werden. In Kapitel 2 gibt der Autor eine geraffte, aber sehr prägnante Interpreta­tion der Rolle von Kommunismus und Sozialismus auf dem Weg von der Feudalgesellschaft hin zum Kapitalismus. Danach war der Kommunismus „ein Übergangssystem zwischen Feudalismus und Kapitalismus“, das in weniger entwickelten, meist kolonialisierten Ländern entstand. Die Führer dieser Länder versuchten, eine soziale mit einer nationalen Revolution zu verbinden, einen Sozialismus mit Nationalismus zu etablieren. Dies erklärt nach Milanovi´c, warum so viele vormals unabhängige, aber dann in den Status von Kolonien abgerutschten Völker und Länder, einer starken Staatsmacht eine so überragende, positive Bedeutung für ihre Entwicklung zuerkennen. So warf die Staatsmacht in China den Sozialismus ab, als er den nationalen Interessen nicht mehr dienlich war und ersetzte ihn durch einen nationalen, einen „politischen“ Kapitalismus. In Kapitel 3 beleuchtet Milanović u.a. die Rolle der IT für das Entstehen und die Wirkung der globalen Wertschöpfungsketten. Des Weiteren bietet er eine vorurteilslose Betrachtung des Problems der Migration. Er konstatiert zurecht, dass eine freie Beweglichkeit von Arbeitskräften für Zuwanderungsländer und Migranten wohlfahrtssteigernd sein kann. Zugleich sieht er klar, dass die Migration die Einkommen der Beschäftigten mit ähnlicher Qualifikation wie die der Zuwanderer im Zuwanderungsland sinken und den Sozialstaat erodieren lässt. Aus diesem Grunde plädiert er für eine „Staatsbürgerschaft light“ mit differenzierten sozialstaatlichen Rechten für Staatsbürger und Migranten. Damit ist auch den Zuwanderern gedient, denn eine Zugangsmöglichkeit mit eingeschränkten Rechten ist besser als ein Zugangsverbot. Schließlich plädiert Milanovi´c auch dafür, das entwicklungspolitische Engagement Chinas in Afrika positiver zu bewerten. Angesichts der gigantischen Aufgabe, die Lebensbedingungen in Afrika so anzuheben, dass der Migrationsdruck nach Europa verringert wird, könne nur eine gemeinsame Anstrengung aller Großmächte, in Afrika zu investieren, Erfolg haben.

Im abschließenden Kapitel 4 gibt Milanović zu bedenken, dass die dem „liberalen meritorischen Kapitalismus“ zugrunde liegende Rawls’sche Wertung eines unbedingten Vorrangs der Freiheitsrechte vor materiellem Wohlstand, nicht überall auf der Welt geteilt wird. Die Vertreter des „politischen Kapitalismus“ halten die Einschränkung von

Freiheitsrechten zugunsten der Verbesserung von materiellem Wohlstand für legitim und finden für ihr entsprechendes Handeln durchaus auch öffentliche Unterstützung. So hält es Milanović für keineswegs ausgemacht, dass der liberale Kapitalismus letztendlich obsiegen werde. Dessen Hauptschwäche sieht er darin, dass der ihm innewohnenden Tendenz zu wachsender Ungleichheit politisch nicht zureichend entgegengewirkt wirkt und so die gesellschaftliche Akzeptanz des Systems in Gefahr gerät. Inhaltlich enthält das Buch eine Fülle interessanter Befunde und anregender Ideen zur politischen Ökonomie. Was dem Buch definitiv fehlt, ist eine – zumindest periphere – Einbeziehung ökologischer Erwägungen. So wird der Umgang mit dem Klimawandel über kurz oder lang Teil des Systemwettbewerbs werden und auch der Ungleichheit eine weitere Dimension hinzufügen. Aber auch ohne eine solche Erweiterung enthält das Buch genügend Darlegungen, die eine Lektüre lohnen.

Uwe Hunger, Stefan Rother, Internationale Migra­tionspolitik, UVK-Verlag München 2021, UTB 4656, 367 S., kart., ISBN 978-3-8252-4656-3, € 24,90.

Die Autoren sind Politikwissenschaftler, Hunger, 51, Professor an der Hochschule Fulda, Rother, 49, Privatdozent an der Universität Freiburg. Ihre vorliegende Arbeit ist ein in der Reihe der Universitäts-Taschenbücher UTB erscheinendes Lehrbuch, das „eine Einführung in zentrale Bereiche der internationalen Migrationspolitik bieten“ will. Die Autoren gliedern ihren Stoff in 14 (für ein Semesterprogramm taugliche) Kapitel: Einer Einleitung, die der begrifflichen Abgrenzung und den empirischen Befunden gewidmet ist, folgt ein Überblick über die gängigen Migrationstheorien. Dem schließen sich drei Kapitel mit den Themen Flucht und Asyl, Migration und Arbeit, Migration von Hochqualifizierten, an. In fünf weiteren Kapiteln verknüpfen die Autoren die Migration mit den Bereichen Gender, Demokratie, Sicherheit, Integration, Entwicklung. In anschließenden drei Kapiteln wird dem Leser ein informativer Überblick über die Einwanderungspolitik der zwölf wichtigsten Einwanderungsländer gegeben, die Migrationspolitik der Europäischen Union vorgestellt sowie das Konzept einer globalen Migrations-Governance nahegebracht. Abschließend rekurrieren die Autoren auf die „NoBorder“-Bewegung und fragen rhetorisch: „Migration ohne Grenzen: Eine Utopie?“.

Der nützliche Beitrag des Buches liegt darin, eine Fülle von Aspekten, die das Phänomen der Migration charakterisieren, zusammen zu bringen. So gewinnt der Leser eine Vorstellung von der Komplexität des Sachverhalts. Da für jeden einzelnen, angesprochenen Themenbereich aber nur rund 20 Seiten zur Verfügung stehen, sind die Autoren gezwungen, jeweils den Kern der Probleme herauszuschälen. Dem didaktischen Anspruch eines Lehrbuchs wird entsprochen, indem jedem Kapitel eine kurze Inhaltsübersicht vorangestellt wird sowie drei Fragen zum Weiterdenken und drei Buchempfehlungen zur Vertiefung nachgestellt werden. Die gemeinsame Autorschaft hat den Vorteil, dass der politikwissenschaftliche Bereich in großer Breite entfaltet werden kann. Die fachliche Homogenität bringt es freilich mit sich, dass den nicht-politikwissenschaftlichen Aspekten nicht immer die ihnen gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird. So werden ökonomische Aspekte vergleichsweise kursorisch und rechtswissenschaftliche Aspekte überhaupt nicht diskutiert. Symptomatisch für letzteres ist, dass die Rechtsgrundlagen der Migrationspolitik nicht im Original, sondern gestützt auf Verweise anderer Politologen angegeben werden.

Die Arbeit weist mit ca. 750 Titeln ein äußerst umfangreiches Literaturverzeichnis auf, ca. 50 Titel pro Kapitel, wobei etliche Titel aber auch zu mehreren Kapiteln genannt werden. Ein Stichwortverzeichnis sollte bei einer zweiten Auflage hinzugefügt werden.

Aus der Sicht eines Ökonomen leidet die Darstellung darunter, dass die Verfasser nicht systematisch zwischen den Wohlfahrtswirkungen der Migration und ihren Verteilungswirkungen unterscheiden. Dass eine Zuwanderung aus gesamtwirtschaftlicher Sicht und unter idealen Marktbedingungen wohlfahrtssteigernd ist, ist unstrittig, schließt aber selbstverständlich nicht aus, dass sie für Einzelne, auch für bestimmte gesellschaftliche Gruppen, wohlfahrtsmindernd wirkt, indem sie Arbeitsplatzverluste und/oder Lohneinbußen und/oder Verschlechterungen der Wohn- und Lebensverhältnisse hinnehmen müssen.

Die Widerstände gegen eine starke Zuwanderung speist sich oft aus diesen Quellen.

Solche Wohlfahrtseinbußen der Migration finden bei Akademikern, die zur Migration schreiben und dem genannten Druck nicht ausgesetzt sind, nicht immer die Beachtung, die sie verdienen und die die Betroffenen erleiden. Eine wohltuende Ausnahme ist Collier, dessen Analyse aber im vorliegenden Text wenig Anklang findet. Ähnliches gilt auch für Raffelhüschen, der auf der Grundlage des Generational Accounting eine überzeugende fiskalische Kosten-Nutzen-Rechnung der Zuwanderung nach Deutschland aufgemacht hat, deren ernüchterndes Ergebnis freilich nicht jedem gefällt.

So wird Colliers berechtigter Hinweis auf Grenzen der Aufnahmekapazität wie folgt kommentiert: „Weniger wissenschaftlich ausgedrückt gehört die Aussage ‚Wir können nicht alle aufnehmen‘ zum Standardsatz deutscher Talkshows und wird mit einer Forderung von ‚Obergrenzen‘ verbunden.“ Nun muss ja etwas nicht allein deshalb schon falsch sein, weil es in einer Talkshow – und dort gar noch mehrmals – gesagt wird, und die Nennung einer Obergrenze ist allemal besser als den Eindruck zu erwecken, es gäbe keine. Und dem Argument Raffelhüschens, die Zuwanderung bringe in Deutschland fiskalisch weitaus höhere Kosten als Erträge mit sich, sollte man als Wissenschaftler eher mit dem Nachweis einer Fehlerhaftigkeit seiner Berechnungen entgegentreten als so zu tun, als sei die Beibehaltung eines stark umverteilenden Wohlfahrtsstaates bei offenen Grenzen und sehr hohem Wohlstandsgefälle kein Problem.

Im Hinblick auf den „Brain Drain“, also die These, die Migr ­ ation schade den Entwicklungsländern, weil ihre besten Köpfe das Land verließen, verweisen die Autoren zurecht auf den gegenläufigen „Brain Gain“, der den kurzfristigen Nachteilen des „Brain Drain“ seine langfristigen Vorteile entgegen stellt. Zu letzterem gehören die „Brückenköpfe“, die die Auswanderer für ihr Heimatland im Zuwanderungsland bieten, die in die Heimatländer zurückfließenden familiären Finanzhilfen, sowie im Falle ihrer Rückkehr, das Mitbringen von erhöhtem Know-how und politischem und wirtschaftlichem Gestaltungswillen. Die Ausführungen profitieren auch davon, dass Hunger selbst auf diesem Gebiet wissenschaftlich gearbeitet hat. Positiv soll auch auf das durchaus provokative abschließende Kapitel hingewiesen werden. Die Präsentation der Vision einer Migration ohne Grenzen zwingt den Leser am Ende noch einmal sehr grundsätzlich über die Frage nachzudenken, wer aus welchem Recht wo leben darf. Mag sein, dass der kommende Klimawandel diese Frage noch einmal mit weitaus größerem Nachdruck stellen wird als Wohlstandsunterschiede.

Prof. Dr. Karlhans Sauernheimer (khs) wirkte von 1994 bis zu seiner Emeritierung im März 2010 als Professor für VWL an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er publiziert schwerpunktmäßig zu Themen des internationalen Handels, der Währungs- und Wechselkurstheorie sowie der Europäischen Integration. Er ist Koautor eines Standardlehrbuchs zur Theorie der Außenwirtschaft und war lange Jahre geschäftsführender Herausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftswissenschaften.

karlhans.sauernheimer@uni-mainz.de

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