Bildung

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Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2023

Ernst Peter Fischer: Wider den UNVERSTAND! Für eine bessere naturwissenschaftliche Bildung. Ein Pamphlet. S. Hirzel, Stuttgart, 2022, 132 S., ISBN 978-3-7776-3033-5, € 20,00.

E. P. Fischer ermutigt in WIDER DEN UNVERSTAND! dazu, »über das Licht der wissenschaftlichen Vernunft zu staunen und der Richtung zu folgen, die es weist« (Klappentext). Den Auftakt machen – ideal zum Pamphlet passend – die Worte »Blödem Volke unverständlich« aus dem Galgenberg von Christian Morgenstern (1821–1914), gedichtet 1905. Das war das annus mirabilis, als Albert Einstein durch einen Artikel »Über einen die Erzeugung und die Umwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Standpunkt« das physikalische Weltbild völlig ins Wanken brachte. Als Erklärung des photoelektrischen Effekts nahm der Berner Patentprüfer an, dass elektromagnetische Wellen auch als Strom winziger Partikel (Photonen) beschrieben werden können, wofür das Ulmer Genie 1922 den Physik-Nobelpreis erhielt.

Vielen Menschen blieben die durch die Quantenphysik eingeleiteten Durchbrüche rätselhaft, schufen „eine den Sinnen unzulänglich bleibende Wirklichkeit“(S. 8). Obwohl die Mehrheit die Welt nicht mehr verstand, nutzt sie die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik ohne jedes Schuldgefühl, weshalb sich Einstein schon 1930 auf der Intern. Funkausstellung in Berlin empörte: »Sollen sich alle schämen, die gedankenlos sich der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht mehr davon erfasst haben als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst« (S. 29). Auch Alfred Döblin (1878–1957, Psychiater und Schriftsteller, Berlin Alexanderplatz ) verstand trotz Bemühens die Welt nicht mehr, woran ausgerechnet die Wissenschaft schuld war, die das Verstehen doch fördern sollte (vgl. S. 12f.).

Fischer spottet, dass viele ökonomische wie kulturelle und politische Geschichtsschreiber von heute vermutlich auch nicht wüssten, wenn von Infinitesimalrechnung, die die Welt revolutionierte, die Rede ist. Er beklagt, dass in Unternehmen von Quantensprüngen, Schwarzen Löchern in Bilanzen oder hauseigener DNA geschwafelt wird (S. 13f.), ist erbost, „dass man die Bildungspflicht […] in eine Bringschuld der Wissenschaft verwandelt“ (S. 16), und sieht die Folgen der allgemeinen Blödheit durch das unmündige Verhalten vieler Menschen bestätigt. Schließlich will er romantisierend verdeutlichen, dass Wissenschaftsvermittlung der Versuch sein kann, „aus Morgensterns Galgenberg einen Freudenberg zu machen, zu dem die Wissenschaft beiträgt und den man vor allem mit Begeisterung erklettern kann“ (S. 22).

Wenn Fischer dann von seinem Romantik-Trip zurück ist und die von der Cambridge Univ. aufgestellten fünf Regeln für »Evidenzkommunikation« (in Nature 587/2020, S.362-364) mit der diese Empfehlungen missachtenden, ständig mit Panik operierenden Berichterstattung in der Corona-Pandemie abgleicht und am Beispiel der Gentechnik und der medizinischen Erfolge den Nutzen von Wissenschaft erklärt, dürfte jeder naturwissenschaftlich Gebildete mit ihm d’accord gehen. Aber wenn er zornig-polemisch gegen einen „kettenrauchenden Kanzler vergangener Tage“ wettert, der überheblich über die Bringschuld der Wissenschaft schwadronierte, aber „vermutlich nicht hätte erklären können, was da gefunkt wird, wenn Menschen Radio hören“ (vgl. S. 30), dürften sich die Meinungen scheiden, nicht nur was die Frage Bring- vs. Holschuld betrifft, sondern weil H.S. als Wehrmachtsoffizier vermutl. eine Funkausbildung gehabt haben dürfte.

Selbstverständlich mokiert sich Fischer auch wieder über Schwanitz‘ Bildungskanon (s. Rez. Bd. Staunen) und bemerkt süffisant, dass viele Redakteure in ihren Büros sich bei dessen Botschaft über die zweitrangigen Naturwissenschaften „so behaglich wie Einsteins Kühe auf der Weide“ gefühlt haben dürften (S. 30).

Auch Theodor W. Adorno, der nach seiner Flucht aus ­Nazi-Deutschland in den USA als Soziologe das »Grundgerüst einer soziologischen Theorie der Radiomusik« entwickelte, bekommt sein Fett ab wegen des aus »elitärbildungsbürgerlicher Perspektive« formulierten Hörerideals. Fischer lästert mit Lessings bekanntem Bonmot, „dass niemand die Fähigkeit besitzen müsse, ein Ei selbst zu legen, um es sich schmecken zu lassen“ (S. 32). Wenn er dann im Kapitel Warum Wissenschaft nicht populär sein kann das von Max Planck 1942 als Frage gestellte Thema aufgreift, das er schon in Gegenworte 19/2008, S.61-68 erörterte, häufen sich für Belesene zwar Déjà-vus von den Größen und Phänomen der Naturwissenschaft, regen aber wegen der gedrängten Repetition vieler Inhalte von Fischers Regale füllenden, imposanten wissenschaftshistorischen Bänden zur erstmaligen oder neuerlichen Lektüre an.

In der Klage über Das Verschwinden der Allgemeinbildung geht es zunächst um den erst spät erfolgten Perspektivwechsel der Geschichtswissenschaft, dass nicht Geschichte den Menschen macht, sondern die Menschen – mit Hilfe der Wissenschaft – Geschichte schreiben. Da man die Blödheit der Menschen nicht unterschätzen sollte, hätte ich mir als Bioanthropologe eine Fußnote zur Paläo-anthropologie und Menschwerdung gewünscht, denn der Kreationismus treibt nicht nur im Bible Belt arge Blüten. Wenn Fischer über Ethikkommissionen und Ethikräte wettert, die nicht begreifen, dass nicht die Wissenschaft allein für die Folgen verantwortlich ist, sondern „alle Menschen zusammen“ (S. 59), ist noch längst nicht garantiert das Erika und Max Mustermann ihre eigene Verantwortung überhaupt begreifen. Es ist zu hoffen, dass die Politik sich nicht den Ideologien links-grüner Aktivisten oder Extinction-Rebellion-Extremisten beugt, denn Solardächer, Windräder, E-Autos und Lastenpedelecs werden nach einem voreiligen Atom- und Kohleausstieg nicht reichen. Es ist zu hoffen, dass Forschende, die z.B. den Tätigkeitsbericht der DFG und Leopoldina zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung kennen, als vernunftgeleitete Politikberater gehört werden, was in Fischers Streitschrift zu kurz kommt.

Da ich nur drei Jahresringe mehr habe als der Autor, d.h. kurz vor der zwischen 1946–64 geborenen »goldenen Generation« (lt. Julia Friedrichs, *1979) zur Welt kam, kann ich aus eigener schulischer und universitärer Erfahrung Fischers Sicht auf die unruhigen 1960er Jahre und seine Wahrnehmung der Brüche in der Bildungspolitik nur unterstreichen. Meine Erinnerungen an die Schriften von Robert Jungk (1913–1994), Konrad Lorenz (1903–1989), Heinz Haber (1913–1990), Manfred Eigen (1929–2019) u.v.a. überschneiden sich und Fischers persönliche Ausführungen zu H. v. Ditfurth (s.o.) und dem Mannheimer Forum zu lesen, sind eine wertvolle Ergänzung zu dem stets erbettelten Panorama.

Wenn Fischer den Ende 1960 erfolgten bildungspolitischen Wandel anprangert, durch den laut Manfred Fuhrmann (1925–2005, Altphilologe) »[a]n die Stelle von Kategorien wie Person, Geist, Idee und Kultur mit rigoroser Einseitigkeit die Kategorien Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit [traten]«, so weckt der 1968er Wertewandel persönliche Erinnerungen an unfruchtbare Diskussionen mit »blöden« Studierenden, denen es nicht um fundiertes Wissen über die Natur, sondern um „hinterhältiges »In-Fragen-Stellen«“ (S. 84) ging, wie Fischer es nennt.

Wenn er dann aber zum Rundumschlag wegen des angeblich nicht verstandenen »Public Understanding of ­Science« durch die Initiative Wissenschaft im Dialog des Stifterverbandes ausholt, die verfehlte Bildungspolitik von BM Antje Karliczek (*1971) [Antje Wer?] anprangert, den medial untergehenden Communicator-Preis wegen des geringen Wirkungsgrades zu Clara-Immerwahr-Preis umtaufen möchte und am Wissenschaftsprogramm der Medien mosert, ausgenommen Mai Thi Nguyen Kim, dann wird seine Kritik an der Wissenschaftskommunikation zur altbackenen Dauer-Nörgelei eines Gelehrten, der die Holschuld mit dem Grundgesetz Art. 14 Abs. 2 Eigentum verpflichtet auch für das geistige Eigentum einfordert. Aber das klappt ja auch nicht für das materielle Eigentum, wie H.-J. Vogels (1926–2020) Aufruf für »Mehr Gerechtigkeit!« (2019, 2. Aufl.) zeigt.

Bei aller Belesenheit und Wortgewandtheit des Pamphle­tisten ist seine Schmähschrift die Repetition eines verblassten, wohl nicht mehr rückzuholenden Bildungs­ideals, Wissenschaft als Verbindung von Naturwissenschaft, Kunst und ausgewählter Literatur zu sehen, von Pablo Picassos (1881–1973) Kubismus über die Selbstbetrachtungen Marc Aurels (121–180) (s. Coda, S. 116) bis zu der Weisheit des chinesischen Daoisten Zhuangzi (4. Jh. v. Chr.), der als gärtnernder Eremit wusste: «Wissen ist grenzenlos» (s. Bd. Staunen, S. 9).

Trotz zahlreicher anregender Passagen hat Fischers Pamphlet viel aus der Zeit Gefallenes, Gestriges, und lässt bis auf wenige polemische Funken die erwartete geistreiche Leidenschaft mit Schmäh vermissen, die z.B. den Stil der durch den Wiener Journalisten Karl Kraus (1894– 1936) geprägten Pamphlete von Erwin Chargaff (1905– 2002) auszeichnen. Der österr.-amerik. Biochemiker, der knapp am Nobelpreis für Medizin und Physiologie vorbeischrammte, schrieb autobiografische Meisterwerke wie Das Feuer des Heraklit und Abscheu vor der Weltgeschichte, hinter die Fischers elitär-belehrende Streitschrift weit zurückfällt. Das entwertet jedoch keineswegs das imposante wissenschaftshistorische Lebenswerk des 75-Jährigen, sondern sollte Neugier zum Nachlesen und -denken wecken.

Ob jedoch Fischers verhaltener Optimismus, dem Licht der Wissenschaft zu folgen, Zustimmung findet, wird jeder Leser selbst entscheiden. Ich halte es mit dem Motto: Wir haben zwar keine Chance, aber wir sollten sie wahrnehmen! [frei n. Herbert Achternbusch (1938–2022, bayrischer Künstler und Eigenbrötler), schließlich sind wir evolutionsbiologisch »eine temporäre Komplexitätsstufe in einer explodierenden Welt« [vgl. Bernulf Kanitschneider (1939–2017)]. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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