Buch- und Bibliothekswissenschaften

Bibliotheks-, Buch- und ­Mediengeschichte

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2023

Dennis Duncan: Index, eine Geschichte des. Vom Suchen und Finden. München: Kunstmann, 2022. 371 S. ISBN 978-3-95614-513-1. € 30.00

„Man kann sich schwer vorstellen, mit Büchern zu arbeiten … ohne in der Lage zu sein, schnell und leicht zu finden, was man sucht: ohne, nun ja, die Hilfe eines Registers. Die Hilfe beschränkt sich natürlich nicht auf Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Schreiben verdienen. Sie erstreckt sich auch auf andere Disziplinen, in den Alltag, und einige der frühen Register finden wir in Gesetzeswerken, medizinischen Texten und Rezeptbüchern.“ (S. 9) „Eine Geschichte des Registers ist … eine Geschichte über Zeit und Wissen und die Beziehung zwischen beiden.“ (S. 10) Das Register erscheint vielen Menschen immer noch als geheimnisvolles Instrument zur Erschließung von Informationen und Wissen – eine geheime, in seinen Details unbekannte Welt mit einer sehr langen, aber gemeinhin unbekannten Vergangenheit. Aber es ist kein Relikt aus der analogen Welt, weil auch im Zeitalter der Internet-Suche auf diese analoge Suchmaschine zurückgegriffen werden muss.

Dennis Duncan schreibt ein wunderbares Buch über den Sinn und die Wahrhaftigkeit und die Geschichte des Registers, ein Aufklärungsbuch von großem Wert. Im Plauderton schlendert er durch die Zeitläufte – von Ordnungsprinzipien, den Geburten des Registers, Registern zur Belletristik bis hin zu den Buchregistern im Zeitalter der Suche („Solange wir durch die Wasser des gedruckten Worts navigieren, wird uns das Buchregister, ein Kind der Fantasie, aber so alt wie die Universitäten, weiterhin als Kompass dienen“. S. 283), immer wissenschaftlich in einer wunderbaren Mischung aus Information, Eloquenz und britischem Humor, immer liebevoll den Büchern und ihren Registern zugetan. Register sind und bleiben für Duncan eine Form der Autorschaft, die nicht in fremde Hände gehört. Manches in Duncans Buch erinnert an die großartige, 1964 in deutscher Sprache erschienene und heute in Vergessenheit geratene Komödie des Buches des ungarischen Juristen und Schriftstellers István Ráth-Végh (1870–1959), köstlich sein „Humor des Sachregisters“ (S. 43-45). Duncan adressiert sein Buch nicht an die Buch- und Bibliothekswissenschaftler, sondern an alle, die Bücher schreiben, lesen und auswerten. Darin liegt seine Einzigartigkeit. Bei aller Freude über dieses bestens ausgestattete und mit einem opulenten Register versehene Werk: Es ist keine direkte Anleitung zum Registermachen. Diese findet sich u.a. in Indexing: the manual of good practice von Pat F. Booth (München, 2001). Dass deutschsprachige Schriften zum Registermachen und die klassischen Zitate über Register (Georg Christoph Lichtenberg: „Befehl kein merckwürdiges Buch ohne den vollständigsten Index zu drucken, könt sehr nützlich sein“, s. Lichtenbergs Aphorismen H. 4 1789-1793, Berlin 1908, S. 13) fehlen, ist der Leser hierzulande von Übersetzungen englischsprachiger Literatur gewöhnt, leider. Zu erwähnen sind der Altvordere Horst Kunze. Über das Registermachen (4. Aufl. München, 1992) und neuerlich Robert Fugmann: Das Buchregister (Frankfurt am Main, 2006) Trotzdem: Genießen Sie den Duncan!

 

Thomas Kaufmann: Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. München: C.H Beck, 20 ­ ISBN 978-3-406-78180-3. € 28.00

Nach seiner großen 1038 Seiten umfassenden ­Geschichte der Reformation in Deutschland (Berlin 2016) und der Studie Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen (Tübingen 2019) unternimmt der Autor den Versuch, die Geschichte der Reformation vom Anschlag der 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517 durch den Augustinerpater Martin Luther bis zu den deutschen Bauernkriegen 1525/26 anhand Luthers Druckschriften und den Schriften anderer Autoren einem breiten Publikum als Mediengeschichte darzustellen. Und das gelingt ihm trefflich. Er beschreitet dabei einen neuen Weg. Sein Blickwinkel ist die Kirchenhistorie und nicht die Historie der Buch- und Bibliothekswissenschaft. Er erzählt die Geschichte der Reformation im Rahmen der Druckgeschichte und keine Buchgeschichte in der Reformation. Der Autor befasst sich mit der ersten Medienrevolution unter dem doppelsinnigen Begriff Die Druckmacher. Als Ausgangspunkt wählt er die um 1450 erfundene Technologie der Textvervielfältigung mit beweglichen Metalllettern und Gießinstrument. Er zeigt ihre Wirkung in der Frühen Neuzeit und arbeitet Parallelen zur heutigen Medienrevolution heraus. Mit dem gedruckten gegenüber dem handgeschriebenen Buch ist es möglich, Wissen in kurzer Zeit in hohen Auflagen zu reproduzieren und über Landesgrenzen hinaus auf europaweiten Vertriebswegen zu verbreiten. Bücher werden für die gebildete Mittelschicht lesbar und erschwinglich. Die printing natives erobern die Welt!

Die heutige Medienrevolution ist gekennzeichnet durch die digital natives (S. 7). Der Autor sucht die „Ähnlichkeiten zwischen der Ersten und der Zweiten Medienrevolution … Die mit der typographischen Reproduktionstechnik entstehende Öffentlichkeit beschleunigte die Kommunikation … «Fake news» und zügellose Polemik, auch in visueller Form, waren bereits Begleiterscheinungen der Ersten Medienrevolution, ebenso wie die meist gescheiterten Versuche kirchlicher und staatlicher Instanzen, diesen durch Regulationen oder Zensur Einhalt zu gebieten.“ (S. 11) Die ersten beiden Kapitel sind Einführungen in die Themenstellung. Im ersten zeichnet Kaufmann die Konturen der ersten Medienrevolution nach, das zweite gehört den „Männern des Buches“ wie Johannes Reuchlin und Erasmus von Rotterdam.

Das dritte, das gewichtigste Kapitel des Buches, ist der Entwicklung des Schrifttums in der Reformation gewidmet. Kaufmann spricht von „publizistischen Explosionen“, das Buch beginnt, „zwischen gelehrten und volkssprachlichen Lesern, Klerikern und Laien Brücken zu schlagen“ (S. 99), es entstehen leistungsstarke typografische Infrastrukturen in vielen Städten in mehreren Ländern Europas, eine wichtige Voraussetzung für die Verbreitung des Gedankengutes der Reformation.

Im vierten Kapitel beschreibt Kaufmann „Eine veränderte Welt“ (S. 215), es sind die langfristigen Veränderungen in Wissenschaft, Bildung, Gesellschaft, Religion und Kultur wie neue Formen des Selbststudiums und des Lehrbetriebs, Bibliotheken als riesige Wissens- und Datenspeicher, Kompendien und Enzyklopädien als Speicherplätze, Indizes, kritische Apparate und Editionen als Suchmaschinen, Bibeln für alle, Kirchenlieder und Gesangsbücher usf. Die Parallelen zwischen der typografischen und der heutigen digitalen Medienrevolution sind für Kaufmann unübersehbar: „Partizipation und Transparenz als Verheißungen, Invektivität, Brutalisierung, Fake News, politische Destabilisierung als Bedrohung, veränderte Lesegewohnheiten als Chance oder Ungewissheit, tastende Versuche der Steuerung mit politischen und juristischen Mitteln als Herausforderung, Selektion und nachhaltige Speicherung als Notwendigkeit.“ (S. 259) In der zweiten Medienrevolution setzt sich die Dynamik der ersten fort! Für Buch- und Bibliothekswissenschaftler ist es ein Buch voller Anregungen.

 

Medium Buch. Wolfenbütteler interdisziplinäre Forschungen. 2 (2020). Inszenierung des Buchs im Internet / Hrsg. Philip Ajouri, Ute Schneider. Wiesbaden: Harrassowitz, 2021. 225 S.  ISBN 978-3-447-11653-4. € 39.80

Band 2 (zu Band 1 s. fachbuchjournal 14 (2022) 1, S. 59-60) enthält 14 Beiträge. Am Anfang steht ein ausgezeichneter Forschungsbericht zu einem Thema, über das im fachbuchjournal mehrfach in Einzelveröffentlichungen berichtet wurde: „Bilder vom Lesen in der bildenden Kunst“, er bleibt leider ohne Abbildungen. Die Leseforschung nutzt Bilder bisher nur sporadisch, theoretisch ausreichend reflektiert wird sie nicht. Eine wichtige Aufgabe für die künftige Forschung: „Wissenschaftlich unterbelichtet bleibt beispielsweise der Bereich Leseszenen in der Modefotografie und der Produktwerbung … Über dieses Desiderat hinaus sind Leseorte, Lesezeiten und Leseatmosphären, die auf den Bildern inszeniert werden, noch zu wenig aus buchwissenschaftlicher Sicht untersucht worden.“ (S. 30-31)

Im Mittelpunkt steht mit sechs Beiträgen das Thema „Inszenierungen des Buchs im Internet“. Den in einer Einführung aufgestellten Thesen folgen konkrete „Beispiele für verschiedene Formate digitaler Repräsentationen von Literatur …, wobei die Inszenierung von Buchförmigkeit im Spannungsfeld zwischen Einzelobjekt und Reihe bzw. Sammlung sowie die Realisierung von analogen und digitalen Paradigmen bei der Herstellung und Nutzung digitaler Formate im Zentrum der Untersuchungen stehen.“ (S. 36) Hingewiesen werden soll noch auf die drei Beiträge im Nachwuchsforum: Werk und Journal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Frauen als Unternehmerinnen in den Familienunternehmen des deutschen Verlagsbuchhandels – Netzwerke literarischer Intellektueller in der Analyse ihrer Verbindungen in ungarischen Druckschriften zwischen 1473 und 1600.

 

Archiv für Geschichte des Buchwesens. Band 76 / Redaktion Björn Biester, Carsten Wurm. Berlin, Boston: de Gruyter, 2022. 219 S. ISBN 978-3-11-072967-2. € 149.95

Die 1956 gegründete wissenschaftliche Zeitschrift Archiv für Geschichte des Buchwesens enthält Beiträge zu historischen Themen des Buchwesens. Band 76 umfasst drei umfangreiche Untersuchungen, zwei Berichte, neun Rezensionen und einen Bericht über den Herausgeber, die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, für den Zeitraum Mai 2020 bis Mai 2021. Während über den Aufklärungstheologen und Gründer des subversiven Geheimbundes „Deutsche Union“ Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792) zahlreiche Bücher und Aufsätze existieren, interessieren sich weder Zeitgenossen noch spätere Historiker für seinen Verleger, Schriftsteller und zeitweise engsten Mitarbeiter Degenhard Pott. Dirk Sangmeister ist es in einer exzellenten, aufwendig recherchierten Biografie gelungen, eine Lücke in der Verlagsgeschichte und in der Darstellung der Deutschen Union zu schließen. – Andreas Pehnke legt Untersuchungen zu dem eher marginalen Berliner Oswald Verlag (1940–1953) nach Auswertung der Akte der Reichskulturkammer vor und findet aufschlussreiche Unterlagen zum Verleger Oswald Arnold (1893–1955), u.a. zu den nationalsozialistischen Diffamierungen seiner Person, zu seinen Berührungen mit dem aktiven Widerstand gegen das NS-Regime und über die Entnazifizierung Kulturschaffender in der Britischen Besatzungszone. – Lisa Schelhas berichtet erstmals aus buchwissenschaftlicher Sicht über den kaum bekannten und bald gescheiterten Vorläufer der späteren Zensurbehörden in der SBZ und der frühen DDR, den 1946 gegründeten „Kulturellen Beirat“, der 1951 im Amt für Literatur und Verlagswesen aufgeht. – Heinz Duchhardt zeigt die Bedeutung von Verlagsverträgen als wissenschaftsgeschichtliche Quelle in einer Fallstudie zur Relativität von Vereinbarungen zwischen Verlag und Autor im Zweiten Weltkrieg am Beispiel des Verlags Koehler & Amelang. – Eine feine kleine Chronik der Geschichte des deutschen Buchhandels. Eine rundum gelungene Publikation.

 

Monika Schmitz-Emans: Buchtheater. Spielformen, Konzepte und Poetiken des Buchs als Theater in Buch- und Literaturgeschichte. Hildesheim: Olms, 2022. 887 S. (Literatur – Wissen – Poetik. 11) ISBN 978-3-487-16060-3. € 78.00

Als Herausgeberin von Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst beschert uns Monika Schmitz-Emans ein umfangreiches Kompendium der besonderen Art (vgl. Rezension in fachbuchjournal 23 (2021) 1, S. 72-73). Dieser Leserkreis kann sich nun auf ein neues Kompendium freuen: Buchtheater. Spielformen, Konzepte und Poetiken des Buchs als Theater in Buch- und Literaturgeschichte. Hier „geht es nicht um die Behauptung, das Buch sei … ein Theater. Vielmehr soll gezeigt werden, dass und unter welchen Voraussetzungen Bücher als Theater wahrgenommen und interpretiert wurden – von denen, die sie gestalteten, und von denen, die sie nutzten … Zu zeigen ist aber noch Weiteres: Die Betrachtung und Gestaltung von Büchern als Theater steht in produktiven Wechselbeziehungen zur Geschichte der Literatur und der Poetik.“ (S. 15) Die Autorin analysiert an vielen Beispielen, wie sich die Literatur zum Konzept des Buches als Theater verhält. Die Monografie umfasst fünf Teile mit insgesamt 14 Kapiteln und vier als Intermezzo bezeichneten Abschnitten. In einer vorgeschalteten 55-seitigen Einleitung geht die Autorin ausführlich auf ihre Konzeption und die Beispiele ein. Teil A behandelt die Theatralisierung des Buchs im 18. Jahrhundert, u.a. mit Samuel Richardsons „Clarissa“ und Laurence Sterns „The life and opinions of Tristram Shandy“. Teil B ist der Romantik gewidmet, u.a. mit Ludwig Tiecks Lesetheater und E.T.A. Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“ als Buchkomödie. Teil C lässt uns teilhaben an den Poetiken der Buchinszenierung im 19. Jahrhundert, u.a. mit den illustrierten Klassikerausgaben von Goethe und Schiller, Stéphane Mallarmés Poetik eines Raumes mobiler Wörter und seiner drei Buchtheater und Shakespeare-Inszenierungen in Form von Pop-ups, Bastelbüchern und Fingertheatern. Teil D stellt das Buchtheater und ihre Akteure im 20. Jahrhundert vor mit neuen Konzepten wie Zeichentheater, Stimmentheater und Wörtertheater und Autoren wie Kurt Schwitters, Arno Schmidt und Herta Müller. Teil E gehört dem Wechselspiel von Wörtern und Bildern im Buchtheater, es ist das Buchtheater der Bilder und der Figuren, der Gaukler und Komödianten.

Die Intermezzi behandeln Büchermacher als Figuren Jean Pauls, Gustave Dorés Don Quijote-Illustrationen, Shakespeare-Inszenierungen in illustrierten Ausgaben und Spielbüchern mit Pop-ups oder Bastelanleitungen sowie ein visualpoetisch inszeniertes Kopftheater Raymond Federmans.

Ein Finale fasst zusammen: „Bücher können als eine Spielform des Theaters betrachtet werden. Sicher ist vor allem …, dass sie als solche oft betrachtet werden sollen – respektive, dass die, die sie produzieren, entwerfen und gestalten, einer solchen Betrachtung gezielt und im Rekurs auf diverse Inszenierungsmittel zuarbeiten.“ (S. 819) Den Abschluss bilden ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Abbildungsverzeichnis und anstelle eines Registers ein kommentiertes Inhaltsverzeichnis.

Ein faszinierendes Buch für die Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Buch- und Bibliothekswissenschaft und die Theaterwissenschaft.

 

Bibliothek und Wissenschaft 54 (2021). Fenster zur Ewigkeit. Die ältesten Bibliotheken der Welt / Hrsg. Cornel Dora, Andreas Nievergelt. Wiesbaden: Harr ­ assowitz, 2021. VI, 286 S. ISBN 978-3-447-11726-5. € 118.00

Bibliothekare sind eine Berufsspezies, der es auf große Exaktheit ankommt. Und so ist es verwunderlich, dass Herausgeber und Verlag mit einem unvollständigen Titel aufwarten: Fenster zur Ewigkeit. Die ältesten Bibliotheken der Welt. Die Beiträge behandeln aber „die vier vermutlich ältesten dieser Bibliotheken, die heute noch bestehen“ (S. 1). Ein an diesem Thema Interessierter wird möglicherweise ganz andere, viel bekanntere, aber heute nicht mehr bestehende Einrichtungen erwarten.

Diese vier Bibliotheken sind die Bibliotheca Capitolare in Verona aus dem 3./4. Jahrhundert, die um 550 gegründete Bibliothek des Katharinenklosters auf dem Sinai, die Stiftsbibliothek St. Gallen von 612 und die Bibliothek des Klosters St. Peter in Salzburg von 696. Sie alle sind kirchlichen Ursprungs, sie bilden sich in den Kirchen der Bischöfe oder in Klöstern. Vertreter dieser Bibliotheken und Wissenschaftler, die sich mit deren Beständen befassen, bieten auf der Tagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte in der Erzabtei St. Peter in Salzburg im September 2019 neun Beiträge. Die allen gemeinsamen Leitfragen sind: „Warum und wie sind diese Bibliotheken entstanden? Warum bestehen sie bis heute? Welche Höhen und Tiefen haben sie durchlebt? Was verdankt die Wissenschaft ihrem Überleben? … Wie positionieren sie sich heute und vor welchen Herausforderungen stehen sie?“ (S. 1) Bei aller Unterschiedlichkeit in den Beständen und den Zugang zu ihnen ist den vier Bibliotheken gemeinsam, dass sie Seuchen, Kriege, Raub, Erdbeben und Bombenangriffe überstehen und wir uns glücklich schätzen können, diese Kostbarkeiten heute noch zu besitzen. Das betrifft insbesondere den Reichtum an sehr alten Manuskripten, im Katharinenkloster allein 4.500. Diese Bibliotheken bilden heute ein „Quellenreservoir für die Wissenschaft“ (S. 241). Gut, dass es nun dieses Netzwerk dieser denkwürdigen Bibliotheken gibt.

Umrahmt werden die Beiträge zu den ältesten noch bestehenden Bibliotheken von einer Einleitung über Bibliotheken in Antike, Mittelalter und Renaissance von Michele C. Ferrari und einem Epilog mit einem Resümee der Tagung von Michael Knoche – und von einem Beitrag über die Bibliothek der al-Qarawˉıyˉın-Moschee in Fès, zwar einem völlig anderen kulturellen Kontext, gerade deshalb eine Bereicherung des Bandes.

 

Handbuch der Schweizer Klosterbibliotheken / Hrsg. Stiftsbibliothek St. Gallen. Bearb. von Albert Holenstein. Basel: Schwabe, 2022. 506 S. ISBN 978-3-7965-4598-6. € 68.00

Dieses Handbuch ist ein wichtiges Nachschlagewerk für klösterliche Büchersammlungen in der Schweiz. Es enthält 84 Beschreibungen von Klosterbibliotheken, davon 50 von aktiven Klöstern. Dabei geht es dem Herausgeber, der an der Stiftsbibliothek St. Gallen angesiedelten Fachstelle schriftliches Kulturerbe unter ihrem Leiter Albert Holenstein, nicht um die großen, mit Fachpersonal ausgestatteten Klosterbibliotheken, sondern um die kleinen, vom gesellschaftlichen Strukturwandel des 20. und 21. Jahrhunderts und „dem damit zusammenhängenden Rückgang des Nachwuchses“ (S. 9) betroffenen Bibliotheken. Das Handbuch ist also „aus der Notwendigkeit entstanden, den über Jahrhunderte aufgebauten Bestand in ihren Bibliotheken zu dokumentieren und damit das Wissen darum für die Zukunft zu sichern.“ (S. 9) Und das gelingt famos.

Einer umfangreichen Einleitung u.a. mit Hinweisen zu den Klosteraufhebungen, zum Forschungsstand und zu konzeptionellen Überlegungen folgen die Klosterbibliotheken in einheitlich gegliederten Artikeln in alphabetischer Reihenfolge der Klosterorte. Es folgen (1) institutionelle Hinweise, Adresse, Benutzerinformationen und Gründungsdatum, (2) Bestand, (3), Kurzbeschreibung des Bestandes, der Geschichte der Bibliothek, Gebäude und Ausstattung und aktueller Zustand, (3) Auswahlbibliografie. Erfreulicherweise nimmt das Handbuch zahlreiche kleine Bibliotheken von Frauenklöstern auf.

Einige kleine Entdeckungen: In der Stiftsbibliothek Einsiedeln befindet sich eine Musikbibliothek, die 50.000 Titel aus der Zeit vor 1500 besitzt, zu größeren Teilen von klostereigenen Komponisten, aus dem benediktinischen Bildungszentrum Salzburg und aus aufgehobenen deutschen Klöstern; es ist „die größte Privatsammlung von Musikalien in der Schweiz“ (S. 114) – Die Stiftsbibliothek St. Gallen bewahrt mehrere bedeutende Sondersammlungen auf wie eine Kunstsammlung mit Gemälden, Skulpturen und Möbeln, eine grafische Sammlung und eine Kuriositätensammlung aus dem 18. Jahrhundert – Die Bibliothek der Benediktinerinnenabtei Sarnen besitzt eine große Musikbibliothek mit über 5.000 Handschriften und rund 110 Musikdrucken vor 1800.

Ein derartiges Handbuch für Deutschland ist ein dringendes Desiderat.

 

Klosterarchiv und Klosterbibliothek. Ein Blick auf die Lüneburger Klöster und darüber hinaus. X. Ebstorfer Kolloquium 2013 / hrsg. Wolfgang Brandis, Hans-Walter Stork. Berlin: Lukas, 2022. 298 S. ISBN 978-3-86732-363-5. € 30.00

Die Ebstorfer Kolloquien beschäftigen sich vorrangig mit Klöstern im Gebiet der Lüneburger Heide. Das Thema des zehnten Kolloquiums lautet Archiv und Bibliothek in den Lüneburger Klöstern. „Mit dem Thema werden die zentralen Bereiche schriftlicher Überlieferung in den Klöstern angesprochen, die zahlreich, in den Lüneburger Klöstern sogar an den Orten ihrer Entstehung, noch vorhanden sind …Um wertzuschätzen, was man selbst besitzt. Muss man erfahren, was man selbst besitzt, muss man erfahren haben, wie es andernorts aussieht.“ (S. 11) Deshalb werden die Tagungsbeiträge nicht nur den Lüneburger Klöstern gewidmet.

Der Band umfasst u.a. Beiträge zu folgenden Themen: Die Entwicklung der Lüneburger Klosterarchive von den Anfängen bis heute – Der buchbinderische Umgang mit den Büchern in den Heideklöstern um 1500 – Die Bibliotheken der westfälischen Zisterzienser Hardehausen, Marienfeld und Bredelar – Die nachreformatorischen Liedhandschriften der Lüneburger Klöster – Die Bibliotheksräume in Klosteranlagen der Benediktiner und Zisterzienser und die Frage, was in den Klöstern gelesen wird – Mittelalterliche Musikfragmente im Kloster Isenhagen – Die vorreformatorischen Bücherstiftungen in Lüneburger Klöstern. Das alles sind wichtige Beiträge für ein noch zu schreibendes Handbuch der Klosterarchive und -bibliotheken in Deutschland. Auch angesichts der Vielfalt der hier behandelten Themen ist ein solches Vorhaben dringend erforderlich. Die Schweiz hat es vorgemacht – siehe vorhergehende Rezension.

Durch eine „ganze Reihe von unglücklichen Umständen“ (S. 9) ist der Band leider erst jetzt erschienen, die Beiträge konnten so aber noch einmal überarbeitet und aktualisiert werden. Fazit: Gut, dass der Band doch noch erscheinen kann.

 

Michaela Schedl: Die Bibliothek des Frankfurter Stadtadvokaten Heinrich Kellner (1536-1589). Studien zu seinen Büchern, Kunstbüchern, Handschriften und Manuskripten. Frankfurt am Main: Klostermann, 2022. 188 S. (Frankfurter Bibliotheksschriften. Band 21) ISBN 978-3-465-03385-1. € 19.80

Forschungen zur Geschichte von Privatbibliotheken in der Frühen Neuzeit sind jahrzehntelang ein Desideratum. Das scheint sich nun geändert zu haben, denn in den letzten Jahren werden häufiger Forschungsergebnisse veröffentlicht. Dazu gehören u.a. Lesen. Sammeln. Bewahren: Die Bibliothek Joachims von Alvensleben (1514–1588) und die Erforschung frühneuzeitlicher Büchersammlungen (Frankfurt am Main, 2016), Die Gelehrtenfamilie Olearius zu Halle an der Saale (Halle, 2020), Lektürekanon eines Fürstendieners: die Privatbibliothek des Friedrich Rudolf von Canitz (1654–1699) (Berlin, 2021) und Die medizinisch-naturkundliche Bibliothek des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew: Analyse einer Gelehrtenbibliothek im 18. Jahrhundert (Stuttgart, 2020)

Hier einzuordnen sind die Untersuchungen zur Bibliothek des angesehenen Frankfurter Stadtsyndikus und Advokaten Heinrich Kellner (1536–1589). Kellner entstammt einer Erfurter Familie, studiert die Rechte in Löwen, Leipzig, Orleans, Bourges und Padua, danach ist er an verschiedenen Orten Justitiar und Hausjurist. 1574 kommt er in die Reichsstadt Frankfurt, er vertritt die Stadt u.a. bei den Reichstagen in Regensburg und Augsburg und beim Kreistag zu Worms.

Über seine umfangreiche Bibliothek mit allen relevanten Themengebieten seiner Zeit ist wenig bekannt. Das ändert sich nun mit den akribischen Ausarbeitungen von Michaela Schedl. „Für die Rekonstruktion von Kellners Bibliothek wurden sämtliche seiner bisher bekannten Bücher erfasst und im Original gesichtet.“ (S. 7) Die einzelnen Kapitel beschäftigen sich mit dem Ursprung der Kellnerschen Bibliothek im Haus Zum Roten Löwen in Frankfurt am Main und dem Weg von Kellners Büchern in zahlreiche Bibliotheken (Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Staatsbibliothek Berlin und Universitätsbibliothek Freiburg u.a.), mit der Ordnung der Kellnerschen Bibliothek, mit der Bedeutung handschriftlicher Notizen in Kellners Schriften und Büchern sowie mit den Merkmalen seiner Bücher (Einbände, Signaturen, Stempel etc.), ergänzt um zahlreiche Anhänge und bereichert durch zahlreiche Abbildungen.

Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur deutschen Buchund Bibliotheksgeschichte der Frühen Neuzeit.

 

Philipp Fürst zu Stolberg-Wernigerode: Die Fürst zu Stolberg-Wernigerodische Bibliothek. Zur Geschichte einer adligen Büchersammlung, ihrer Zerschlagung und ihrer Wiedereröffnung. Frankfurt am Main: Klostermann, 2022. 160, XLVII S. ISBN 978-3-465-04524-3. € 89.00

Um 1570 beginnt Graf Wolf zu Stolberg mit dem Aufbau einer Büchersammlung. Seit 1746 sind die Stolbergsche Bibliothek und das Hausarchiv der Familie der Grafen, später Fürsten zu Stolberg-Wernigerode im Residenzschloss Wernigerode eine bedeutende Adresse für die Forschung, mit 120.00 Bänden, 1.800 Handschriften und 590 Inkunabeln zu Ende des Ersten Weltkrieges eine ansehnliche wissenschaftlichen Institution. Das ändert sich mit dem Beginn der Weimarer Republik, im Gefolge des Nationalsozialismus und mit der Teilung Deutschlands dramatisch: Die Wirtschaftskrise zwingt die Besitzer, 31.000 Bände zu verkaufen, 1929 erfolgt die Zwangsverwaltung des Stolbergschen Vermögens, bei Kriegsausbruch 1939 erfolgt die behördlich erzwungene Schließung der Bibliothek, nach 1945 fällt sie als Teil des Vermögens des Hauses StolbergWernigerode unter die in der SBZ angeordnete Bodenreform, über 50.000 Bände werden auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration nach Moskau überführt und dort an verschiedene Bibliotheken verteilt, die in Wernigerode verbliebenen Bestände (36.600 Bände, 1.000 Handschriften, mehrere Kisten Karten und weitere Materialien) werden der neugegründeten Landesbibliothek Halle zugewiesen und von dort zum Teil an andere Institutionen weitergegeben. Das Familienarchiv gehört nun dem Historischen Staatsarchiv Oranienbaum und wird 1971 in Orangerie in Wernigerode zurückgebracht. 1990 beginnt mit der Wiedervereinigung Deutschlands ein neues Kapitel in der Geschichte dieser Bibliothek. Es wird ein jahrzehntelanger Kampf um Restitution. Eigentümer ist der Autor der vorliegenden Veröffentlichung Philipp Fürst zu Stolberg-Wernigerode. In dem vorliegenden Buch berichtet er nun, eingebettet in die ältere Geschichte der Bibliothek, von dem Bestreben, die enteigneten und verstreut in Bibliotheken der DDR liegenden Bestände zurückzuerhalten und an einem neuen Standort, im Hofgut Luisenlust bei Hirzenhain in Hessen, zu vereinen. Genau 450 Jahre nach ihrer Gründung wird die Bibliothek 2019 wieder öffentlich zugänglich. Aktuell umfasst die Sammlung 37.000 Titel. Das Archiv ist heute immer noch auf zwei Standorte verteilt (Luisenlust und Wernigerode), „für die wissenschaftliche Auswertung in der gegebenen Konstellation wertlos.“ (S. 108)

Von der Politik fordert der Autor eine Umkehr der Beweispflicht, den Behörden wirft er bürokratische Hürden bei der Durchsetzung seiner Restitutionsansprüche vor, die Bibliotheken, Archive, Sammler und Auktionshäuser beschuldigt er eines mangelnden Problembewusstseins. Dass es auch andere Sichtweisen geben kann, zeigen Reinhard Altenhöner und Reinhard Laube in ihrem Geleitwort. Es ist ausschließlich der Initiative des Autors zu danken, dass die Stolberg-Wernigerodische Bibliothek existiert und öffentlich zugänglich ist. Es ist zu hoffen, dass die offenen Fragen in einem kritischen Dialog geklärt werden können.

 

Archiv-, Bibliotheks- und Dokumentationspolitiken. Frauen*- und genderspezifische Zugänge / Hrsg. Susanne Blumesberger, Li Gerhalter, Lydia Jammernegg . Wien: Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare, 2022. 333 S. (Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare 75 (2022) 1) ISSN 1022-2588

Das Schwerpunktthema des ersten Heftes 2022 der Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare ist die vernetzte Bibliotheks- und Dokumentationsarbeit in feministisch ausgerichteten Archiven und Bibliotheken Österreichs. Es stellt in diesem Umfang ein Novum in der bibliothekarischen Fachliteratur dar. Als Rahmen wählen die Herausgeberinnen das 30jähriges Bestehen des feministischen Netzwerkes frida. Die Gemeinsamkeit aller Beiträge ist ein frauen- oder genderspezifischer Zugang zu den Archiv-, Bibliotheks- und Dokumentationspolitiken. In dem Heft sind „frauenhistorisch/frauenforscherisch ausgerichtete Texte ebenso enthalten wie Texte zu queeren Debatten, deren theoretisches Fundament auf Dekonstruktion aufgebaut ist.“ (S. 13)

Beispiele: Die Erschließung historischer Bibliotheken von Frauen – Zum Bild der Frau in den Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare – Datenbank und Lexikon Österreichischer Frauen – Das Forschungsprojekt Visualitäten von Geschlecht in deutschsprachigen Comics – Die geschlechtersensible Verschlagwortung in der Gemeinsamen Normendatei – Frauen- und genderspezifische Zugänge in der Wienbibliothek.

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bi­bliotheks­direktor an der Bergaka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

dieter.schmidmaier@schmidma.com

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