Logopädie

Auditive Verarbeitungsstörungen im Kindesalter

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 1/2018

Norina Lauer: Auditive Verarbeitungsstörungen im Kindesalter. Grundlagen, Klinik, Diagnostik, Therapie. Mit Online-Extras: Bildmaterial und Diagnostikbögen zum orientierenden Screening. 4. vollständig überarbeitete Auflage, 160 Seiten, 20 Abbildungen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2014. ISBN 978-3-13-115814-7, € 39,99

Logopäden kennen Störungen der Hörverarbeitung unter dem Indikationsschlüssel SP2 der Heilmittelrichtlinie. Die internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme von 2011 (ICD-10) gibt ihr den Code F80.20 und spricht – im Unterschied zum Buchtitel – noch von „Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung“. Generationen von Logopäden haben sich in Ausbildung und Studium mit der Frage abgequält, was genau „auditive Verarbeitung“ und was „auditive Wahrnehmung“ sei. Je nach Institution oder Buchautor stieß man nämlich auf recht widersprüchliche Definitionen. Mit der ihr eigenen geistigen Trennschärfe hat Norina Lauer hier Klarheit geschaffen und die Untrennbarkeit von Verarbeitungs- und Wahrnehmungsfunktionen aufgezeigt. Tatsächlich besteht heute mehrheitlich wissenschaftlicher Konsens, nur noch von „Auditiven Verarbeitungsstörungen“ zu sprechen.

Norina Lauer, Studiendekanin des Bachelorstudienganges und Professorin an der Hochschule Fresenius in Idstein, hat das Modell der auditiven Verarbeitung reformiert. Das aktuelle Modell rechnet zum Kernbereich der auditiven Verarbeitung nur noch die Teilfunktionen Lokalisation (Richtungshören), Diskrimination (Unterscheidung), Selektion (Wichtiges aus Hintergrundgeräuschen herausfiltern) und dichotische Diskrimination (wenn beiden Ohren gleichzeitig z.B. zwei verschiedene Wörter vorgespielt werden, diese unterscheiden). Aufmerksamkeit und Arbeitsspeicher (z.B. für Silben- oder Zahlenfolgen) gelten hingegen jetzt als eigene Bereiche, die aber großen Einfluss auf die auditive Verarbeitung ausüben. Klassifikationsprozesse wie die Analyse (z.B. Herauslösen von Einzellauten oder Silben aus Wörtern), Synthese (z.B. Bilden eines Wortes aus Einzellauten) und Ergänzung (z.B. von Wort- oder Satzfragmenten zu sinnvollen Wörtern oder Sätzen) werden nicht mehr als auditive, sondern als höhere kognitive Funktionen der Sprachverarbeitung begriffen. Genau so wichtig wie die Unterscheidung der hier beteiligten Funktionen ist jedoch die Erkenntis, dass sie alle sehr eng miteinander verwoben sind. Daher werden sie bei der Diagnostik und Therapie in Lauers Buch auch allesamt gleichermaßen berücksichtigt. Norina Lauer hat zwei Screeningvarianten zur orientierenden Untersuchung von Kindern im Vorschulalter (5-6 J.) und im frühen Grundschulalter (6-7 J.) entworfen. Das benötigte Bildmaterial und die Diagnostikbögen kann man sich beim Thieme-Verlag kostenlos herunterladen. Das ist viel wert, Test-Kits kosten normalerweise viel Geld. Der Therapieteil enthält in der überarbeiteten Auflage ein Kapitel zur Beratung von Eltern und Pädagogen. Unterschiedliche Therapieansätze werden beschrieben und bewertet. Hilfreich ist dabei besonders die Neubewertung computergestützter Programme für das auditive Training, wobei sich die Software Audiolog 4 als besonders umfassend erweist. Sehr praxisfreundlich sind die ausführlichen Übungsvorschläge für alle Teilfunktionen, denen im Anhang immerhin 35 Seiten gewidmet sind. (gl)

Maike Kleine-Katthöfer, Nina Jacobs, Walter Huber, Klaus Willmes, Kerstin Schattka: CIAT-COLLOC – Spielmaterial und Handbuch zur Therapiedurchführung und Evaluation. Verben: 128 Objekt-Verb-Kollokationen (32 Paare, 16 Quartette). Nomina Komposita: 128 NK-Verb-Kollokationen (32 Paare, 16 Quartette). Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag 2016. Erstauflage. ISBN 978-3-8248-1141-0, € 279,00

 

Jeder Mensch spielt wohl lieber als abgefragt zu werden. Das gilt auch für Erwachsene mit erworbenen Sprachstörungen, beispielsweise nach einem Schlaganfall. Um den versunkenen Wortschatz wieder zu aktivieren, ist sehr viel Übung erforderlich. Das geht am besten mit geeigneten Spielen, bei denen man die zu übenden Wörter und Wortkombinationen immer wieder hört und selbst sagen muss, um zu gewinnen. Das Spielmaterial für erwachsene Patienten mit schweren bis mittelschweren Wortabrufstörungen hat einen gelehrten Namen: CIAT-COLLOC. Der erste Teil CIAT steht für ConstraintInduced Aphasia Therapy, ein bewährter Ansatz der Aphasietherapie (nach Pulvermüller 2001), wobei der constraint, die therapeutisch wirksame Einschränkung, darin besteht, dass der Patient kommunikative Aufgaben nur sprechend, ohne Zuhilfenahme von Gesten, Zeigen, Schreiben o.ä. erfüllen soll. Der zweite Teil COLLOC steht für Kollokationen, gemeint sind Verbindungen zwischen einem Verb und einem bedeutungsmäßig eng damit verknüpften Objekt wie „Rad fahren“, „Blumen gießen“ oder „Tisch decken“. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen worden, dass solche Objekt-Verb-Kollokationen leichter zu merken und abzurufen sind als dieselben Verben ohne Objekt. Diese Erkenntnis nutzt man in der Aphasietherapie.

Das Therapiespiel-Konzept CIAT-COLLOC wurde an der RWTH Aachen in einem Masterstudiengang entwickelt. In dem Spiel kommt es darauf an, möglichst viele Karten mit Objekt-VerbVerbindungen paarweise oder als Quartett zu sammeln. Dazu muss man die anderen Mitspieler nach den fehlenden Karten fragen. Braucht man etwa die abgebildete Quartettkarte „Rad fahren“, dann muss man mindestens „Rad fahren?“ (mit fragender Betonung) sagen, und zwar deutlich genug, dass der befragte Mitspieler es versteht. Für Patienten mit weniger ausgeprägten Schwierigkeiten werden vor Spielbeginn höhere Anforderungen vereinbart. Sie fragen: „Hast du Rad fahren?“ oder „Haben Sie Rad fahren?“ Oder mit Höflichkeitsfloskel: „Haben Sie bitte die Karte Rad fahren?“ Zum Spieldialog gehört außerdem, die Mitspieler mit ihren Namen anzureden und sich für die erhaltene Karte zu bedanken. Der angesprochene Mitspieler muss mindestens „nein“ oder „ja“ antworten und in letzterem Fall die verlangte Karte herausgeben. Er kann auch ausführlicher antworten: „Nein, Rad fahren habe ich nicht.“ Das Material ist sorgfältig nach linguistischen Kriterien der Gebräuchlichkeit im Alltag ausgewählt. Es ist so durchdacht, dass man Patienten mit Sprachstörungen unterschiedlichen Schweregrades damit behandeln kann. Es gibt Einzelkarten zum Kennenlernen des Vokabulars, Paarkarten zum Memory spielen und Quartettkarten, bei denen das Zielwort durch ein Farbfoto, die übrigen drei Begriffe schwarzweiß dargestellt sind. Alle Karten gibt es mit und ohne Schrift. Mit Schrift fällt – bei ausreichend erhaltener Lesefähigkeit – der Wortabruf sehr viel leichter.

CIAT-COLLOC trainiert den Abruf von Tätigkeitswörtern (Verben) und zusammengesetzten Hauptwörtern (Nomina Komposita). Beide werden in Objekt-Verb-Verbindungen angeboten. So besteht ein Verbquartett aus vier verschiedenen Verben mit dem gleichen Objekt: Rad fahren, reparieren, aufpumpen und abschließen. Ein Nomina-Komposita-Quartett besteht aus vier zusammengesetzten Hauptwörtern mit dem gleichen einfachen Verb: Postkarte, Reiseführer, Kochbuch, Zeitschrift lesen.

Das alltagsrelevante Kartenspielprogramm ermöglicht viele individuell zugeschnittene Spielvariationen und eignet sich für die Einzeltherapie ebenso wie für das Spiel in der Gruppe. (gl)

 

Gabriele Liebig (gl) arbeitet als Akademische Sprachtherapeutin in einer Logopädischen Praxis in Hochheim am Main. Daneben beschäftigt sie sich mit Poesie der Weltliteratur und tritt mit den „Dichterpflänzchen e.V.“ bei Rezitationsveranstaltungen auf.

gabriele.liebig@gmx.de

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