Pascale Cancik / Andreas Kley / Helmuth Schulze-Fielitz / Christian Waldhoff / Ewald Wiederin (Hrsg.), Streitsache Staat. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1922-2022, Hardcover, 2022, 1154 S., Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-160988-6, € 159,00.
Helmuth Schulze-Fielitz, Die Wissenschaftskultur der Staatsrechtslehrer im Spiegel der Geschichte ihrer Vereinigung, 2022, Mohr Siebeck, 230 S., ISBN 978-3-16-160977-0, € 29,00.
Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2. Aufl., 2022, Mohr Siebeck, 610 S., ISBN 978-316-161639-6, € 99,00.
Was hätte man nicht alles in der Weltstadt Berlin im goldenen Oktober des Jahres 1922 tun können und was vor allem am 13. Oktober? Der Einladung des geschätzten Kollegen Heinrich Triepel auf die Gründungsversammlung einer der unzähligen Wissenschaftsgesellschaften folgen, einer „Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer“, auf der ja doch nur die Kollegen ihr konservatives Ressentiment gegen die junge Parlamentarische Republik hegen und dem Vergangenen bei einer „Tasse Tee“ in der Wohnung des Einladenden nachtrauern? Oder sollte man doch lieber an der Feier zum 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns teilnehmen? Thomas Mann, so wird angekündigt, wird hier seine Rede „Von deutscher Republik“ halten. Festzuhalten bleibt, dass die Einladung Triepels Anklang fand – trotz oder ungeachtet der prominenten Konkurrenz. Es kamen aus allen Teilen der Republik rund vierzig Staatsrechtslehrer und gründeten die „Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer“, der heute über 800 Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer vornehmlich aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angehören. Wenn ein wissenschaftsdisziplinärer Selbststand auch gemeinhin über Gegenstand und Methode definiert wird, so prägen doch Sozialisation und weiche Faktoren wissenschaftskultureller Sozialisation nicht minder die Denkkollektive und Kohorten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Helmuth Schulze-Fielitz hat diesen „Mikrokosmos“ der Staatsrechtslehre vor fast einem Jahrzehnt kenntnisreich und meinungsfreudig erschlossen. Mit hinreichender Vergrößerung lassen sich im Mikrokosmos durchaus Überraschungen erleben und manches Muster finden, das im Makrokosmos unsichtbar bleibt. Im Vergleich zu im Fachbuchjournal besprochenen Erstauflage (Heft 3/2014, S. 36 f.) widmet sich auch die Neuauflage unverändert und unverändert souverän den wissenschaftssozialen Rahmenbedingungen der universitären Staatsrechtslehre und dem Status der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts als Professionswissenschaft. Der Anhang, nun auf dem Stand von 2022, ordnet in Form von »Stammbäumen« die mehr als tausend deutschen Staatsrechtslehrer und -lehrerinnen aus einhundert Jahren individuell ihren jeweiligen akademischen Mentoren zu und liefert damit ungewollt eine Folie, vor der sich manche wissenschaftsdogmatische Kontroverse in ihren Ursachen und Akteurstrukturen nachvollziehen lässt. Schon in den wissenschaftskulturellen Analysen spielt die „Staatsrechtslehrervereinigung“ in ihren Strukturen und Ritualen eine herausgehobene Rolle und belegt Schulze-Fielitz Rolle als deren unangefochtenen Chronisten.
Dass diese Rolle nicht die eines Solisten ist, sondern in einem polyphonen Chor mündet, belegt der Jubiläumsband, der explizit sich nicht als Festschrift verstanden wissen will und der im Auftrag der Vereinigung zu ihrem 100jährigen Bestehen herausgegeben worden ist. Die Beiträge schreiten auf über 1000 Seiten ein breites Panoptikum zur „Streitsache Staat“ und zur Geschichte der Vereinigung auch als Spiegel der juristischen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts mit all ihren Höhen und all ihren menschenverachtenden Schrecknissen ab. Ein erster Teil und eine ganze Gruppe von Beiträgen lässt die Perioden der Existenz der Staatsrechtslehrervereinigung Revue passieren. Neben den erwartbaren Gründungserzählungen und der verdienstvollen Würdigung der Vereinigung zur Zeit des Nationalsozialismus und der schuldhaften Verstrickung zahlreicher ihrer Mitglieder und des, diese Vergangenheit kaum angemessen reflektierenden, Neubeginns ihrer Tätigkeit nach Konstituierung der Bundesrepublik finden sich erhellende Rekonstruktionen zur Scheu der Vereinigung, sich für die interessierte Fachöffentlichkeit zu öffnen, und auch ein umfangreicher Beitrag von Helmuth Schulze-Fielitz zu einer Kulturgeschichte der Staatsrechtslehrervereinigung. Dieses Füllhorn auch nichtfachlicher Beobachtungen hat den Verfasser augenscheinlich so mitgerissen, dass er den Rahmen eines Beitrages für einen Sammelband sicher nicht nur zur Freude von Herausgeberkreis und Verlag gesprengt hat. Elegant ist die Lösung der Auskoppelung des Beitrages unter dem Titel der „Wissenschaftskultur der Staatsrechtslehrer im Spiegel der Geschichte ihrer Vereinigung“ allemal und erlaubt es demjenigen, dem die „Kurzfassung“ im Jubiläumsband unbefriedigt zurücklässt, auf das umfangreichere Werk zurückzugreifen. In jedem Fall ein lohnendes Unterfangen. Die „aristokratisch“ anmutende Macht der Vorstände in Themenwahl der Jahrestagungen und Auswahl der Referenten (und deren Ohnmacht, sich der „Einladung“ zu entziehen) werden facettenreich nachgezeichnet. Zur ikonographischen Analyse finden sich hier Gruppenbilder der dritten Münsteraner und der Bonner Tagung 2018: Dort ein paar Dutzend ehrwürdige Männer, hier fast 250 Männer und Frauen, die jedenfalls nicht mehr ganz so ehrfurchtgebietend schauen. Der zweite Teil des Buches widmet sich den auf den Tagungen behandelten Themen, ausgehend von Staat und Verfassung bis hin zur Verwaltungsrechtsvergleichung. In dem Spektrum der Themen lassen sich die Großtrends und auch Moden des öffentlichen Rechts verfolgen. Interessant sind dabei vor allem aber auch die blinden Flecken und überhaupt dasjenige, über das die Vereinigung nicht spricht. Im dritten Teil werden neuralgische Punkte und Konfliktzonen aufgearbeitet: Wie gingen die Mitglieder mit ihrer NS-Vergangenheit um? Welche Auswirkungen hatten die Umbrüche, die mit »1968« verbunden werden? Gab es Kontakt zu benachbarten Disziplinen und wie sah er aus? Wie wird die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Vereinigung sichtbar? Die »Außensichten« im vierten Teil beleuchten die Vereinigung aus der Perspektive des Auslands und der anderen Rechtsfächer. Der Band wird beschlossen mit einer Zusammenstellung der Mitglieder der Vereinigung, ihrer Vorstände und der Referentinnen und Referenten auf den Jahrestagungen seit Gründung.
Natürlich sind Beschäftigungen mit dem eigenen Fach, der eigenen Sozialisation und dem eigenen Selbst nicht unproblematisch und als Selbstbespiegelungen nicht von vornherein frei von der Gefahr narzisstischer Allüren. Für Einige ist die Vereinigung auch mit ihren doch beständigen Ritualen der Abgrenzung und Ausgrenzung, der Nichtzulassung von Promovenden und Habilitanden und des Ausschlusses der Öffentlichkeit, nicht viel mehr als eine aus der Zeit gefallene „Zunft“. Die Rolle und Bedeutung der Vereinigung hat sich unter den wissenschaftssoziologischen Rahmenbedingungen und auch der demographischen Schichtung ihrer Mitgliedschaft in den letzten Jahrzehnten unzweifelhaft gewandelt. Immer noch aber ist die Aufnahme in die Vereinigung regelmäßiger Schritt nach einer Habilitation oder der Innehabung einer Professur, noch immer ist das Referat auf der Jahrestagung drittes Staatsexamen oder Ritterschlag, noch immer sind die Plenardebatten auf den Jahrestagungen kraftvolle Ausrufezeichen eines gemeinsamen Diskursraumes ungeachtet der fortschreitenden Ausdifferenzierung. Die Publikationen können auch deshalb in der Beschäftigung mit der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer zugleich eine Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts des vergangenen Jahrhunderts zeichnen. Die Zukunft ist zwischen Wandel und Bewahrung naturgemäß offen. „The fundamental things apply, As time goes by.“ (md) 🔴
Univ.-Prof. Dr. Michael Droege (md) michael.droege@uni-tuebingen.de