Volkswirtschaft

Armut, Gerechtigkeit und das Bedingungslose Grundeinkommen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2019

Der Sozialstaat in Deutschland steht in der Kritik. Ihm wird vorgeworfen, er akzeptiere Armut in einem reichen Land, vermöge Gerechtigkeit in wünschenswertem Maße nicht hervorzubringen und erscheine so reformresistent, dass nur noch ein radikaler Neuanfang mit einem bedingungslosen Grundeinkommen Aussicht auf Besserung verspräche. Trifft das alles tatsächlich zu? Dieser Frage gehen die Autoren und Herausgeber der folgenden fünf Schriften nach. Cremer weist die Thesen in zwei Büchern entschieden zurück und plädiert für punktuelle Verbesserungen im bestehenden System. Osterkamp, Butterwegge/Rinke und Kovce sind Herausgeber von drei Aufsatzsammlungen zum Bedingungslosen Grundeinkommen, in denen auf eine je eigene Art das Pro und Contra dieses Konzepts erörtert wird.

Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? C.H.BECK, München 2016, 2. durchgesehene Aufl. 2017, 271 S. mit 7 Schaubildern, Klappenbroschur, ISBN 978-3-406-69922-1. € 16,95

Dr. Georg Cremer, 67, Promotion und Habilitation in Volkwirtschaftslehre, war zunächst in der Entwicklungspolitik, danach beim Deutschen Caritasverband und von 2000 bis 2017 als dessen Generalsekretär tätig. Er lehrt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Freiburg und als Lehrbeauftragter an der ETH Zürich. Cremer ist seit Jahren eine der gewichtigen Stimmen in den sozialpolitischen Debatten des Landes. Mit der vorliegenden Schrift nimmt er die aktuelle Diskussion um die Armut in Deutschland auf und versucht, der Debatte Struktur und dem Leser Orientierung zu geben.

Einleitend weist der Verfasser darauf hin, dass Deutschland über einen gut ausgebauten Sozialstaat verfügt. Versuche, dessen Unzulänglichkeiten zu skandalisieren, seien entschieden zurückzuweisen. Umgekehrt gelte freilich auch, dass seine Schwachstellen nicht hingenommen werden dürften und gehandelt werden müsse. Die Hauptrisikogruppen, die von Armut bedroht seien, seien die Langzeitarbeitslosen, die Alleinerziehenden, die Niedriglohnbezieher sowie die Rentner mit ehemals niedrigen Lohneinkommen. Für die erstgenannten drei Gruppen müssten die Hartz IV-Regeln angepasst, für die vierte Gruppe die Grundsicherung im Alter verbessert werden. Leitlinien jeglicher Reformen zur Armutsüberwindung sollte die Herstellung von Befähigungs-Gerechtigkeit sein, ein Konzept, das auf den Nobelpreisträger des Jahres 1998, Amartya Sen, zurückgeht und auf der Idee basiert, die Armen in eine Lage zu versetzen, dass sie durch eigene Anstrengungen die Armut überwinden können.

Wer ist arm? Das Standardmaß zur Messung der Armut ist die sogenannte Armutsgefährdungsquote, AGQ. Sie definiert diejenigen als „arm“, deren (Nettoäquivalenz-) Einkommen unterhalb der Grenze von 60% des Medianeinkommens liegt. Diese Grenze liegt in Deutschland 2016 bei 969 €. Gemessen daran sind 15,7% der Bevölkerung „arm“.

Cremer verweist zu Recht darauf, dass diese Zahlen mit Sorgfalt interpretiert werden müssen. Die AGQ bezieht sich nur auf die Einkommensarmut, das Vermögen bleibt außer Betracht. Die AGQ misst ferner nur die Armutsgefährdung, nicht die Armut selbst. Insbesondere aber misst die AGQ nicht die absolute, sondern die relative Armut. So würde bei einer Verdopplung des Lebensstandards aller Deutschen die AGQ konstant bleiben, wohingegen die absolute Armut selbstverständlich abnimmt. Und schließlich ist die 60%-Grenze genauso willkürlich gewählt wie es jede beliebige höhere oder niedrigere Grenze wäre. Cremer weist auch darauf hin, dass nach Datenerhebungen der Europäischen Union die empfundene Armut, gemessen als „materielle Entbehrung“, weitaus geringer ausfällt als die anhand der AGQ gemessene Armut.

Nichtsdestoweniger ist die AGQ, zumindest im zeitlichen Vergleich, ein durchaus nützliches Maß. Sie zeigt auf der Grundlage der Daten des Sozioökonomischen Panels SOEP einen eindeutigen Anstieg der Armutsgefährdung in Deutschland über die letzten beiden Jahrzehnte hin an: Von 11,6% 1994 über 14,3% 2004 bis 16,8% 2015. Was läuft schief? Orientierung zur Beantwortung dieser Frage bietet Cremer mit einem Blick auf das Soziale Mindestsicherungssystem Deutschlands. Es ruht auf drei Säulen:

  • der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II mit (1a) dem Arbeitslosengeld II (Hartz IV) für Arbeitsuchende und Arbeitende mit niedrigen Einkommen sowie (1b) dem Sozialgeld (überwiegend für die Kinder der Bezieher von Arbeitslosengeld II);
  • der Sozialhilfe nach SGB XII mit (2a) der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie (2b) der Hilfe zum Lebensunterhalt, und schließlich
  • den Leistungen für Asylbewerber (3)..

2017 bezogen insgesamt 7,6 Millionen Menschen Unterstützung aus diesem System, davon 5,9 Mio. aus (1), 1,2 Mio. aus (2) und 0,5 Mio. aus (3). Weitere Soziale Leistungen werden als Wohngeld, Kinderzuschlag, Bafög, Hilfe zur Pflege, für Behinderte und für Hilfen in anderen Lebenslagen an ca. 3 Mio. Menschen gewährt. Einer der Kandidaten, die für Schieflage verantwortlich gemacht werden, sind die Hartz IV Gesetze von 2004. Cremer verweist nüchtern auf den Befund, dass der Anstieg der AGQ bereits vor 2004 erfolgte, die Hartz IV Regeln also nicht ursächlich für den Anstieg der AGQ sein können. Freilich brachte Hartz IV auch Härten mit sich: Die Zumutbarkeitsregeln für eine Arbeitsaufnahme wurden verschärft, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I wurde reduziert, Arbeitslosengeld II wurde zu einer Grundsicherungsleistung und insoweit der Bedürftigkeitsprüfung unterworfen. Aus Scham oder anderen Gründen mochten sich manche einer solchen Prüfung nicht unterwerfen, was zu „verdeckter Armut“ führte.

Dem steht entgegen, dass die durch Hartz IV geschaffenen Arbeitsanreize sowie die sie begleitende zurückhaltende Lohnpolitik zu einer Trendwende am Arbeitsmarkt führten. In Deutschland hatte sich die Arbeitslosigkeit von 1973–2005 in vier Schüben von 1,2% bis auf 13,0% erhöht. Danach sank die Arbeitslosenquote von Jahr zu Jahr bis auf 5,8% (2018). Von 2008 bis 2018 ist ferner die Zahl der Beschäftigten um 6,5 Mio. (knapp 20%) gestiegen, dabei wurden 5,7 Mio. sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, und 0,8 Mio. geringfügig entlohnte Arbeitsplätze geschaffen.

Ein zweiter Bereich, für den eine Schieflage diagnostiziert wird, sind niedrige Renten, die nach einer unterstützenden Grundsicherung im Alter verlangen. Personen mit weit unterdurchschnittlichen Erwerbseinkommen und/ oder wenig Versicherungsjahren und/oder langer Teilzeitbeschäftigung sind von Altersarmut bedroht und insoweit auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Rd. 3% der Personen im Rentenalter bezogen 2018 Grundsicherung im Alter, deutlich weniger als der Anteil der Grundsicherungsbezieher an der Gesamtbevölkerung. Allerdings ist die Dunkelziffer Anspruchsberechtigter, die ihre Ansprüche nicht geltend machen, hoch. Schätzungen liegen zwischen 30% und 60%. Darüber hinaus wird das Risiko von Altersarmut in der Zukunft steigen. Rentenexperte BörschSupan schätzt, dass sich der Anteil der Personen, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sein werden, mehr als verdoppeln wird.

Eine dritte Schieflage ist das mit Kindern verbundene Armutsrisiko. Kinderreichtum erhöht das Armutsrisiko beträchtlich, da ein Elternteil durch die Erziehung für längere Zeit als Einkommensbezieher ausfällt. Da er in dieser Zeit keine Rentenanwartschaften begründen kann, droht ihm darüber hinaus Altersarmut.

Wo sieht Cremer Handlungsbedarf? Aus der Fülle seiner Vorschläge seien hier nur wenige aufgeführt. Erstens müsse der Regelbedarf an Geld, der erforderlich ist, das soziale Existenzminimum zu sichern, deutlich erhöht werden. Cremer schlägt, gut begründet, einen Erhöhungsbetrag von 80 € vor. Das entspricht beim derzeitigen (2019) Regelbedarf eines Alleinstehenden von 424 € einer Erhöhung von ca. 19%. Davon profitieren würden rd. 7 Millionen Menschen.

Zweitens bedürfe es großzügigerer Hinzuverdienstregeln, damit Arbeit sich lohnt. In der Möglichkeit zur „Aufstockung“ sieht Cremer zu Recht eine kluge Verbindung von Grundsicherung und Anreizkompatibilität. Die Alternative zur „Aufstockung“ wäre eine „Absenkung der Transferansprüche“. Dem steht jedoch das Urteil des BVerfG von 2010 entgegen, das, über die Sicherung des physischen Existenzminimums hinausgehend, die Sicherung des sozialen, Teilhabe gewährenden Existenzminimums in den Verfassungsrang hebt. Derzeit liegt dem BVerfG die Frage vor, ob Sanktionen, die zu Abzügen am Existenzminimum führen, verfassungskonform sind. Mit einer Entscheidung wird noch in diesem Jahr gerechnet.

Drittens müsste mit einer speziellen Kinderrente oder einer deutlich erweiterten Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung der Beitrag, den Eltern für den Fortbestand des umlagefinanzierten Rentensystems leisten, endlich angemessen gewürdigt werden. Neben der sozialen Mindestsicherung diskutiert Cremer auch die Thesen des Zerfalls der Mittelschicht, der Bildungsarmut u.a.m. Auch hier finden sich viele kluge Hinweise.

Was dieses Buch auszeichnet, ist, dass sich sein Autor dem auch in Deutschland existierenden Problem der Armut nicht im Ton der Empörung, sondern mit dem nüchternen Blick des Analytikers nähert. Gleichwohl bleibt seine Sympathie für wirksame, armutsreduzierende Maßnahmen deutlich erkennbar. Wer kein skandalisierendes Pamphlet über Armut, keinen armutsverbrämten neuen Rundumschlag gegen Neoliberalismus, Kapitalismus, gierige Unternehmer und unfähige Politiker, sondern eine gut begründete Analyse und Therapie von Armut in Deutschland lesen will, greife zu diesem Buch.

 

Georg Cremer: Deutschland ist gerechter als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme. C.H.BECK, München 2018, 272 S. mit 6 Schaubildern, Klappenbroschur, ISBN 978-3-406-72784-9. € 16,95.

Anders als in „Armut in Deutschland“ nimmt Cremer in dieser Schrift den Sozialstaat insgesamt in den Blick. Als beredter Befürworter dieses Sozialstaats hebt er dessen Leistungen hervor und verteidigt ihn gegen Kritik. Freilich weiß er als profunder Kenner des deutschen Sozialstaates selbst nur allzu gut, an welchen Stellen dieser Schwächen hat und Ungerechtigkeiten aufweist. Zu Beginn des Buches führt er auch gleich einige dieser Schwächen auf. Dessen ungeachtet hält er einen großen Teil der Kritik am Sozialstaat für terminologisch überzogen und inhaltlich unangebracht. Wenn der Sozialstaat als „SuppenküchenSozialstaat“ diskreditiert wird, oder wenn erforderliche Korrekturen als „Sozialabbau“ skandalisiert werden, sieht er darin eine bewusste Verzerrung der Wirklichkeit. Dieses Buch will dazu einen Kontrapunkt setzen. Dem Niedergangsdiskurs stellt es eine Aufklärung darüber entgegen, was der Sozialstaat ist, welche Leistungen er vorweisen kann und was noch zu tun ist.

Cremer geht in drei Schritten vor. Zunächst gibt er einen Überblick über die Lage und diskutiert Gerechtigkeits- und Ungleichheitskonzepte. Anschließend wird das System der sozialen Absicherung in Deutschland detailliert für die Bereiche von Krankheit, Alter, Pflege, Kinder und Jugend, sowie Menschen mit Behinderungen beschrieben und gewürdigt. Im dritten Schritt schließlich geht der Autor der Frage nach, wie es sozialpolitisch weiter gehen soll. Im ersten Teil erläutert Cremer die Mehrdimensionalität des Begriffs „Gerechtigkeit“. Gerechtigkeit bedeute bei Bürgerrechten und medizinischer Versorgung Gleichheit, bei der Arbeit Leistungsgerechtigkeit, bei Behinderungen Bedarfsgerechtigkeit.

Immer sei Befähigungsgerechtigkeit anzustreben. Die Wirtschaftsordnung müsse der Selbstverantwortung Raum geben, aber Hilfe in Not ermöglichen. Die Soziale Marktwirtschaft leiste genau dieses.

Zur Ungleichheit betont Cremer zu Recht, dass man zwischen Einkommens- und Vermögensungleichheit unterscheiden müsse. Deutschland weise im internationalen Vergleich eine sehr niedrige Ungleichheit in der Einkommens-, aber eine sehr hohe Ungleichheit in der Vermögensverteilung auf. Bei der Vermögensverteilung müsse beachtet werden, dass die Rentenansprüche statistisch üblicherweise nicht als Vermögen erfasst werden. So erscheine ein Land mit gesetzlicher Rentenversicherung paradoxerweise als arm, ein Land, dessen Bürger privat für das Alter vorsorgen müssen als reich. Analog erscheinen innerhalb Deutschlands die gesetzlich Versicherten als arm, die Selbständigen als reich. So muss ein Selbständiger derzeit ein Vermögen von rund 300.000 € aufbauen, um eine mit der Rente eines mittleren Angestellten vergleichbare Altersversorgung zu erreichen. Ein weiterer Grund für die hohe Vermögensungleichheit in Deutschland sei die mittelständische Struktur der Wirtschaft. Um sie zu erhalten, werden die Betriebsvermögen beim Vermögensübergang durch hohe Freibeträge nur in geringem Umfang besteuert, wenn die Betriebe fortgeführt und die Zahl der Beschäftigten erhalten wird.

Teil zwei beginnt mit dem Gesundheitswesen. Hier verweist der Autor auf die diesem Sektor inhärente Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient. Die daraus resultierende angebotsinduzierte Nachfrage sowie der Technische Fortschritt und die Alterung der Gesellschaft führe zu einem hohen Ausgabenwachstum. Daher seien Kostendämpfungsinitiativen unvermeidlich. Die These, das Gesundheitssystem werde „kaputtgespart“, sei deshalb nichts anderes als empiriefreie Empörung. Ausführungen zur Rente schließen sich an: Die Einführung der dynamischen Rente 1957 erfolgte in einer Zeit hohen Nachkriegswachstums, sinkender Arbeitslosigkeit und wachsender Bevölkerung. Heute ist das Wachstum schwach und die Bevölkerung schrumpft. Der Alterslastquotient, der 1957 bei 18% lag, liegt heute bei 35% und steigt nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bis 2060 auf 61%, eine jährliche Zuwanderung von 200.000 Personen schon eingerechnet. Die Lebenserwartung steigt alle 10 Jahre um 2 Jahre mit der Folge, dass die Rentenbezugsdauer von ursprünglich 9 Jahren im Jahre 1957 auf mittlerweile 20 Jahre angestiegen ist. Mit einer Geburtenhäufigkeit von 1,4 Kindern pro Frau schrumpft die Bevölkerung in jeder Generation um ein Drittel. Unter solchen Umständen wäre politisches Nichtstun unverantwortlich gewesen.

Mittels höherer Beiträge der Versicherten und Reduktion der Ansprüche der Rentenempfänger versuchte die Politik, die Lasten auf „Junge“ und „Alte“ einigermaßen gerecht zu verteilen. Dies als „neoliberalen Kurswechsel“ zu diffamieren ist abwegig. Cremer zeigt, dass trotz der ergriffenen Konsolidierungsmaßnahmen die Renten auch in Zukunft steigen werden. Bei einem angenommenen Anstieg der Löhne um 1,5% p.a. kommt es zu etwa 1% Rentenerhöhung p.a. was innerhalb von 30 Jahren die Renten um 35 % ansteigen lassen wird. Von Rentenkürzungen kann also keine Rede sein.

Auch für die Bereiche „Pflege“, „Kinder- und Jugendhilfe“ sowie „Behinderungen“ legt Cremer dar, dass und in welchem Umfang der Staat soziale Verpflichtungen anerkennt und danach handelt. Dessen ungeachtet hält er deutliche Leistungsverbesserungen in der Kinder- und Jugendhilfe für geboten, nicht zuletzt deshalb, weil die dafür erforderlichen Aufwendungen weit niedriger sind als die gesellschaftlichen Kosten einer misslungenen Integration in den Arbeitsmarkt.

Gegeben die Leistungen des Sozialstaats, hält Cremer die Kritik am Sozialstaat von Autoren wie Streeck, Schneider und anderen, die ihn durch „die neoliberale Revolution“ seit den 1980er Jahren auf dem Rückzug sehen, für unangebracht. Zum einen gab es von damals bis heute eine Fülle sozialpolitischer Verbesserungen, deren wichtigste die Einführung der Pflegeversicherung 1995 war. Zum anderen waren die Einschnitte, die es auch gab, nicht „neoliberalem Zeitgeist“ geschuldet, sondern waren hervorgerufen durch sinkende Wachstumsraten, zunehmende Arbeitslosigkeit, steigende Verschuldung, Globalisierungsdruck, die Kosten der Einheit und die Finanzkrise. In Teil drei „Wie Weiter?“ diskutiert Cremer zwei grundsätzliche Optionen, zum einen den Ausstieg aus dem derzeitigen System und die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE), zum anderen Reformen im bisherigen System, darunter Verbesserungen von Hartz IV und mehr Fairness für Familien und Alte. Mit einem Plädoyer für schrittweise Reformen im Rahmen des jetzigen Systems, die auf mehr Gerechtigkeit hinzielen, schließt er die Arbeit ab.

Das BGE lehnt Cremer im Hinblick auf seine Bedingungslosigkeit, seine Finanzierungsprobleme sowie die nicht befriedigend lösbare Behandlung der Rentenansprüche ab. Die Hartz IV-Regeln hält Cremer für größtenteils sinnvoll, Verbesserungen im Detail seien freilich möglich. Solche sieht er in abgeschwächten Sanktionen, stärkeren Pauschalierungen von Ansprüchen sowie einer Gewährleistung des Lohnabstandsgebotes durch Einführung einer Kindergrundsicherung als dritter Säule der Grundsicherung neben der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Grundsicherung im Alter Zu mehr Fairness im Alter verweist Cremer auf den Koalitionsvertrag von 2018, der für Personen, die mindestens 35 Jahre lang Beiträge zur Rentenversicherung geleistet haben, eine „Grundrente“ vorsieht, die 10% über der Grundsicherung im Alter liegen soll und an der Bedürfnisprüfung festhält. Statt der starren Grenze von 35 Jahren, die zu neuen Ungerechtigkeiten führt, schlägt Cremer einen zu den Jahren der Beitragszahlungen proportionalen Erhöhungssatz vor, der bei 35 Jahren die 10%-Grenze erreicht. An der Bedürfnisprüfung hält er aus guten Gründen fest. Der jüngste Vorschlag einer bedürfnisprüfungsfreien „Respektrente“, dürfte dem Cremer’schen Verdikt nur durch die erst nach der Drucklegung des Buches erfolgte Bekanntmachung entgangen sein.

Resümierend ist festzuhalten, dass das Buch kein Lehrbuch der Sozialpolitik sein will, das systematisiert, Vollständigkeit anstrebt und wissenschaftlichen Duktus pflegt. Stattdessen wendet es sich an wirtschafts- und gesellschaftspolitisch interessierte Bürger und zeigt am Beispiel zentraler sozialpolitischer Bereiche, wie der Sozialstaat in Deutschland praktisch funktioniert, welche Erwartungen er erfüllen kann und wie man ihn durch überzogene Erwartungen schädigt. Wer keine parteipolitisch oder ideologisch gefärbte Darstellung, sondern eine nüchterne Analyse der sozialen Verhältnisse im Lande erwartet, wird mit dieser Schrift gut bedient.

 

Rigmar Osterkamp (Hrsg.): Auf dem Prüfstand: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für Deutschland? Zeitschrift für Politik ZfP, Sonderband 7, NomosVerlag, Baden-Baden 2015, 250 S., broschiert, ISBN 978-3-8487-2045-3. € 49,00.

Dr. Rigmar Osterkamp, Volkswirt, ehemals Abteilungsleiter im ifo-Institut und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik, München, ist Autor zahlreicher Publikationen zur Entwicklungs-, Umwelt-, Gesundheits- und Sozialpolitik und in neuerer Zeit auch zum Bedingungslosen Grundeinkommen BGE.

In der hier angezeigten Studie hat Osterkamp 11 Autoren, überwiegend Dozenten der Hochschule für Politik, München, zusammengebracht. Sie nehmen aus philosophischer, politikwissenschaftlicher, juristischer und ökonomischer Sicht zum BGE Stellung. Hier ist nur Raum, auf einige der Beiträge einzugehen.

Osterkamp selbst führt mit einem 10-seitigen kompakten und gut gelungenen Überblick in das Thema ein. In knapper und geraffter Form interpretiert er den Begriff des BGE, zeichnet seine Geschichte nach, stellt die wichtigsten Begründungen für sowie die zentralen Einwände gegen das Konzept vor und äußert sich zu den politischen Durchsetzungschancen des BGE. Unter einem BGE versteht man eine regelmäßige, staatliche Geldzahlung ohne Bedingung an ein Individuum, mindestens in Höhe des sozialen Existenzminimums. Die Zahlung kann monatlich oder jährlich, in Barzahlung oder als Steuergutschrift erfolgen. Ohne Bedingung heißt, dass die Zahlung unabhängig ist von (a) der Bereitschaft zu arbeiten, (b) anderen Einkommenszuflüssen, (c) Familienstand, (d) Geschlecht und (e) Alter.

Schönherr-Mann, apl. Professor für Politische Philosophie an der LMU München, spürt einer Verwurzelung des BGE in der politischen Philosophie nach. Ausgehend von der Beobachtung, dass die ersten Propagandisten des BGE aus dem Lager des Liberalismus stammten, fragt er, ob nicht gemeinschaftsorientierte geistige Strömungen wie das Christentum, die Sozialdemokratie, Marxisten oder Nationalisten dem BGE eine näher liegende Heimstatt geben müssten. Aber umgekehrt fragt er auch, ob sich das BGE wirklich aus dem politischen Liberalismus herleiten lässt. Er legt in überzeugender Weise dar, dass der den gemeinschaftsorientierten Strömungen innewohnende Paternalismus, wie er, in vergleichsweise milder Form, im christlich und gewerkschaftlich geprägten deutschen Sozialstaat vorliegt, erst recht aber in den marxistischen und nationalistischen Erscheinungsformen, letztlich mit dem radikale Freiheiten gewährenden BGE nicht kompatibel ist. Da Schönherr-Mann aber auch im Liberalismus starke Strömungen ausmacht, denen es nicht primär um die Autonomie des Individuums geht, schlussfolgert er: „Dort, wo das BGE herkommt, hat es keine Heimat.“ Metschl, Universität Innsbruck, knüpft an van Parijs‘ Konzept der „wahren Freiheit“ an, welches über die rein formale Freiheit im Sinne einer Abwesenheit von Zwang hinausgehend konstatiert, dass formal zugestandene Möglichkeiten erst dann zu „realen“ Möglichkeiten werden, wenn die finanziellen Mittel vorhanden sind, nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu handeln. Plakativ wird das mit dem BGE verfolgte Anliegen mit der These vertreten, dass „nach der Abschaffung der Sklaverei, der Aufhebung rassischer und religiöser Diskriminierung und der Herbeiführung der Gleichstellung der Geschlechter das BGE nur der nächste Schritt in der Anerkennung der sozialen Gleichheit aller Personen sei“. Gleichheit aber, so Metschl, sei ein „schillernder“ Begriff, der nicht so weit trage, wie die Anhänger eines BGE sich das wünschen. Merk, Jurist, Politologe und Professor an der Hochschule Koblenz, weist auf das hohe Armutsrisiko von Kindern und Familien mit Kindern hin. Deren Armutsrisiko beruht nicht auf individuellem Versagen, sondern darauf, dass Kinder nicht arbeiten sollen und Eltern in nicht bezahlter Arbeit Kindererziehung leisten. Dennoch müssen diese Familien Bedürftigkeit nachweisen, um finanzielle Unterstützung zu erhalten.

In einem BGE für Kinder und Familien mit Kindern sieht Merk nun eine Chance, diese Schieflage zu überwinden. Die Existenz von Kindern genügt, die Zahlungen zu veranlassen. Sie gehen bis zur Volljährigkeit der Kinder an die Eltern, danach bis zum Alter von 23 Jahren an den Jugendlichen. Die Zahlungen müssen hoch genug sein, den Lebensunterhalt für den erziehenden Elternteil und das Kind zu sichern. Merk denkt an 1000 € mtl.; bei derzeit ca. 20 Mio. Bürgern in diesem Alter in Deutschland käme man so auf einen Betrag von 240 Mrd. €. Berücksichtigt man entfallende Zahlungen, bleibt ein Nettofinanzierungsbedarf von knapp 100 Mrd. €.

Zusätzlichen Charme erhält der Vorschlag dadurch, so der Autor, dass mit dem jetzigen Kindergeld bereits ein passendes Instrument existiert, das nur quantitativ ausgeweitet werden müsste. Damit gelänge es, der zu erwartenden Opposition gegen die Einführung des Fremdkörpers BGE in das bestehende Sozialsystem den Wind aus dem Segel zu nehmen. Mit dem eigentlichen BGE hat der Merk’sche Vorschlag allerdings nicht viel zu tun, weil dessen Hauptmerkmal, Zahlungserhalt auch bei Arbeitsverweigerung, bei Kindern und Erziehenden nicht existiert. Den ökonomischen Part bedient Osterkamp mit zwei Beiträgen alleine. Im ersten unterzieht er drei ökonomische Begründungen, die zugunsten eines BGE vorgebracht werden, einer kritischen Prüfung. Im zweiten Beitrag geht Osterkamp der Frage nach, ob ein BGE in Deutschland finanzierbar ist. Unter „Finanzierbarkeit“ versteht er, dass der Staatshaushalt, ausgehend von einem Saldo von null, durch das BGE nicht defizitär wird. Das bedeutet, dass die Ausgaben für das BGE nicht größer sein dürfen als die Summe der aus durch das BGE vermiedenen Ausgaben und der zur Finanzierung des BGE angesetzten Steuern. Die Finanzierbarkeit wird in zweierlei Szenarien geprüft. Im ersten wird unterstellt, dass die Haushalte auf die Einführung des BGE (noch) nicht mit Verhaltensänderungen reagieren, im zweiten wird angenommen, dass Reaktionen erfolgen, insbesondere beim Arbeitsangebot. Das erste Szenario bildet die kurze Frist, das zweite die lange Frist ab.

Ausgearbeitete BGE-Modelle, auf deren Grundlage eine „Finanzierbarkeitsanalyse“ vorgenommen werden kann, gibt es vereinzelt bereits seit den 1980er Jahren. Osterkamp diskutiert mit Althaus (2006) und Straubhaar (2008) zwei jüngere Arbeiten, die große Aufmerksamkeit gewonnen haben.

Das Althaus-Modell sieht ein BGE von 800/400 € für Erwachsene/Kinder vor, eine Transferentzugsrate bei steigendem Einkommen von 50% und einen Steuersatz von 25%. Der Abschlag für Kinder ist streng genommen ein Verstoß gegen die Bedingungslosigkeit und dient lediglich dazu, die Kosten in Grenzen zu halten. Der wirtschaftswissenschaftliche Sachverständigenrat hat das Modell sehr genau geprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass die Finanzierbarkeit mit diesen Daten nicht gewährleistet ist. Wollte man Finanzierbarkeit gewährleisten, müsste man z.B. den Steuersatz auf 60% erhöhen und eine Lohnsummensteuer von 21% einführen. Man sieht daraus, wie stark die Steuern erhöht werden müssten, um den Budgetausgleich sicherstellen zu können. Für das StraubhaarModell gilt ähnliches. Tabellarische Übersichten machen die Finanzierungsalternativen der beiden Modelle und ihrer Varianten sehr schön deutlich. Bei Berücksichtigung der BGE-induzierten Veränderungen im Arbeitsangebot werden die Ergebnisse weniger eindeutig. Weder gibt es Übereinstimmung darüber, ob das Arbeitsangebot steigt oder sinkt, noch darüber, ob die Löhne steigen oder fallen werden.

Osterkamp schließt mit einigen Überlegungen zur Frage, ob ein BGE, das finanzierbar ist, auch politisch umsetzbar ist. Er äußert Zweifel: Die Belastung vieler Steuerzahler würde steigen. Nach wie vor findet der Grundsatz, dass für eine Leistung eine Gegenleistung zu erbringen ist, große Zustimmung in der Bevölkerung. Und es gibt die nicht unbegründete Befürchtung, dass ein isoliert in Deutschland eingeführtes BGE wie ein Magnet auf Zuwanderer mit geringer Qualifikation wirken müsste. Das Buch beeindruckt durch seine vergleichsweise detaillierte, ökonomisch durchdachte Darstellung und Würdigung des BGE in seinen in Deutschland bekanntesten beiden Ausformungen. Die nicht-ökonomischen Beiträge liefern interessante philosophische und politikwissenschaftliche Hintergründe.

 

Christoph Butterwegge, Kuno Rinke (Hrsg.): Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell, Beltz Juventa, Weinheim 2018, 260 S., broschiert, ISBN 978-3-7799-3987-0. € 19,95.

Butterwegge, 68, ist Politikwissenschaftler an der Universität zu Köln und war Kandidat der Partei DIE LINKE für die Wahl zum Bundespräsidenten 2017, Rinke ist gymnasialer Studiendirektor. Das von ihnen herausgegebene Buch enthält 12 Aufsätze, von denen 6 für und 6 gegen das BGE Stellung beziehen sowie 3 weitere Aufsätze zum Thema, die in das Pro und Contra Schema nicht recht einzuordnen sind.

Straubhaar, Ökonom und ehemaliger Präsident des HWWA Hamburg, präsentiert eine Kurzfassung seiner 2017 publizierten Monographie „Radikal gerecht. Wie das BGE den Sozialstaat revolutioniert“. Im Kern läuft sein Vorschlag auf eine fundamentale Steuerreform in Form einer Negativen Einkommensteuer hinaus. Jeder erhält ein bedingungsloses Transfereinkommen, bar oder als Steuergutschrift. Die Markteinkommen werden alle mit dem gleichen Steuersatz und vom ersten Euro an besteuert. Die Höhe des Bedingungslosen Grundeinkommens setzt Straubhaar mit 1000  € mtl., den Grenzsteuersatz mit 50% an. Bei einem Markteinkommen von 0 erhält man also das Transfereinkommen von 1000 €, bei einem Markteinkommen von 2000 € erhält und zahlt man netto nichts, bei Markteinkommen von 3000 €, 4000 €, 5000 € fallen Steuern in Höhe von 500 €, 1000 € bzw. 1500 € an. Der Durchschnittssteuersatz steigt demnach von 0 über 16,6%, 25%, 30% an, sodass der Steuertarif progressiv ist, höhere Einkommen also überproportional viel zahlen. Nach Straubhaar ist sein Vorschlag liberal, weil sein BGE allen, unabhängig von ihren Verhaltensweisen, Eigenschaften, Lebensformen gewährt wird. Er ist ferner egalitär, weil sein BGE für alle gleich ist, unabhängig von Alter Geschlecht, Qualifikation und Wohnort. Er ist individualistisch, weil weder der Familienstand noch eine standardisierte Erwerbsbiographie eine Rolle spielen. Schließlich entfällt der teure und als Überwachung empfundene Verwaltungs- und Kontrollaufwand.

Inwieweit sein Vorschlag den Kriterien der Leistungs-, Bedarfs-, Verteilungs-, Teilhabe- und Chancengerechtigkeit entspricht, wird freilich nicht diskutiert. Was etwa wird aus den beitragsfinanzierten Rentenansprüchen der Erwerbstätigen? Ferner fehlt ein Beleg für die Finanzierbarkeit. Eine 4-köpfige Familie hätte ein BGE von 4000 € mtl., d.h. 48.000 € p.a., bzw. ein steuerfreies Einkommen von 96.000 € p.a. Wer bleibt dann noch übrig, um Einkommensteuern zu zahlen?

Precht, Philosoph, Autor und Fernsehjournalist steuert einen flockigen Essay bei. Das BGE soll die Antwort auf die nach seiner Meinung aus der Digitalisierung folgende drohende Arbeitsplatzvernichtung historischen Ausmaßes sein. Es solle – mindestens – 1500 € pro Monat betragen und jedem Erwachsenen zustehen. Das wäre bei 68 Millionen erwachsenen Beziehern ein Finanzbedarf von ca. 1.200 Mrd. € pro Jahr. Zum Vergleich: Die gesamten Steuereinnahmen des Bundes lagen 2017 bei ca. 300 Mrd. €. Das Vierfache des Bundeshaushalts muss also aufgebracht werden. Precht weiß auch schon, wie: Die Finanztransaktionssteuer wird es richten. Er mutmaßt: „Am Geld dürfte daher kein BGE-Konzept scheitern.“ Der Leser fragt sich, wie dumm Politiker sein müssen, dass sie diesen Goldesel nicht „prechtig“ melken, der z.B. die Verschuldung des Bundes über Nacht verschwinden lassen würde, oder der es erlauben würde, den Bürgern ihre gesamte derzeitige Steuerlast in Höhe von 700 Mrd. € zu erlassen und ihnen darüber hinaus noch 500 Mrd. € zu schenken. Da gibt es vielleicht doch noch das eine oder andere zu bedenken. Die Verteidiger des gegenwärtigen Sozialstaats werden von ihm als Vertreter einer „einfältigen Sozialromantik“ diskreditiert und die Sorge, dass ein so generöses BGE wahrscheinlich einen beträchtlichen Anreiz für Migranten darstellen könnte, wird salopp mit der Antwort „Die kommen mit und ohne BGE“ beschieden. Fernsehen und Weitsichtigkeit sind offenbar zweierlei.

Ute Fischer, Soziologin und Volkswirtin, hat einen sehr lesenswerten Aufsatz zur Frage, inwieweit ein BGE zur Geschlechtergerechtigkeit beiträgt, verfasst. Sie weist darauf hin, dass Leistungsethik nicht nur auf die Erwerbsarbeit bezogen werden darf, sondern in gleicher Weise in der Erziehung, der Hausarbeit und der Pflege gesehen werden muss. Deshalb weist sie die Nahles’sche These, wonach das BGE den Solidaritätsgedanken verletze, zurück. Die Erziehende übe auch Solidarität, zwar nicht durch Erwerbsarbeit, aber durch Erziehungsarbeit. Das ist wohl wahr, aber keine Begründung für ein BGE, das ja auch der erhalten soll, der sich keinerlei Arbeit unterzieht. Im individualistischen Ansatz des BGE sieht sie allerdings zurecht ein starkes Element von Geschlechtergerechtigkeit verwirklicht. Bedauerlicherweise verliert sie, obwohl auch Volkswirtin, kein Wort zu den Finanzierungsproblemen des BGE. Die Gegner des BGE kommen, jedenfalls in diesem Buch, alle aus den gewerkschaftsnahen Kreisen. Dies ist kein Wunder, steht doch die Arbeit und der Schutz der Arbeitnehmer im Mittelpunkt des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses. Da kann ein Ansatz, der die aus Arbeitsleistungen erzielten Einkommen entwertet, indem er Einkommen ohne geleistete Arbeit „vom Himmel regnen“ lässt, nicht viel Sympathie erwarten. Der drohende Machtverlust mag auch einen gewissen Anteil an der ablehnenden Haltung haben.

Krämer, Gewerkschaftssekretär und Vorstandsmitglied in der Partei DIE LINKE, sieht im BGE eine „illusionäre Forderung“ und keine soziale Alternative. Es sei „ein gigantisches Umverteilungskarussell mit gravierenden Nebenwirkungen, das überwiegend an Menschen gezahlt würde, die es gar nicht brauchen“. Da alle es erhalten sollen, besteht an der Richtigkeit dieser Aussage kein Zweifel. Krämer weist zurecht darauf hin, dass der Link zwischen Arbeit und Einkommen nur in einzelwirtschaftlicher, nicht aber in gesamtwirtschaftlicher Betrachtung aufgehoben werden kann. Gesamtwirtschaftlich betrachtet muss die Umverteilung von Einkommen aus dem laufenden Volkseinkommen, also aus Lohneinkommen einerseits und aus Gewinn- und Vermögenseinkommen andererseits finanziert werden. Krämer zeigt, dass nicht einmal die totale Abschöpfung der Gewinn- und Vermögenseinkommen ausreichen würde, das BGE zu finanzieren. Er weist auch darauf hin, dass im Vermögenseinkommen auch die Miet-, Pacht- und Zinseinkommen der Arbeitnehmer enthalten sind und sich die heimischen Gewinne und Kapitalerträge bei internationaler Kapitalmobilität nicht weit von ihren ausländischen Bezugsgrößen entfernen können. So nimmt er „nur“ eine Verdopplung der Steuerlast auf Gewinne und Zinserträge an. Selbst diese verlangt noch eine Erhöhung der Lohnsteuer von weit über 50%. Am Ende müssten doch die Lohneinkommensempfänger die Masse der Umverteilung finanzieren, weshalb Krämer gegen das BGE plädiert.

Darüber hinaus fürchtet er, dass das BGE zu einer Absenkung der Löhne führt. Der Kampf der Gewerkschaften um angemessene, das soziale Existenzminimum sichernde Mindestlöhne wird entscheidend geschwächt, weil die Unternehmer ihre Lohnangebote mit Verweis auf das BGE, das diese Funktion ja jetzt übernimmt, reduzieren werden. Man mag sich in der Tat fragen, was die Tarifhoheit in einem BGE System noch für einen Wert hat. Jedenfalls werden die Einkommensauseinandersetzungen durch das BGE politisiert und die Politik wird vor Wahlen leicht erpressbar. Auch Butterwegge lehnt das BGE ab. Es schaffe weder Bedarfs-, noch Leistungs-, noch Verteilungsgerechtigkeit. „Anstatt die Existenz des Sozialstaates durch ein gesellschaftliches Großexperiment mit zweifelhaftem Ausgang aufs Spiel zu setzen, solle man ihn durch sinnvolle Reformen zu einem inklusiven Sicherungssystem weiterentwickeln.“ Ihm schwebt eine solidarische Bürgerversicherung mit armutsfester, bedarfsdeckender und repressionsfreier Grundsicherung vor.

Vobruba, Soziologe, sieht eine „Utopiefalle“ darin, dass das Verlangen, das Grundeinkommen in einem großen Sprung einzuführen, dazu führen wird, dass es niemals eingeführt wird. Stattdessen sieht er die Möglichkeit einer schrittweisen Einführung. Sieht man sich die Bedingungen dieser Möglichkeit näher an, scheint sie kaum weniger illusorisch als die schockartige Einführung des BGE selbst. Es handelt sich, wie in dem von Osterkamp herausgegebenen Buch, um eine lesenswerte Darstellung des Pro und Contra eines BGE. Während bei Butterwegge die Pro- und Contra- Autoren streng separiert aufmarschieren, wird bei Osterkamp das Pro und Contra in jedem einzelnen Beitrag erwogen.

 

Philip Kovce (Hrsg.): Soziale Zukunft. Das bedingungslose Grundeinkommen. Die Debatte. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2017, TB, 237 S., kartoniert, ISBN 978-3-7725-2878-1. € 10,00.

Philip Kovce, 33, hat in Witten-Herdecke und in Berlin an der Humboldt-Universität Wirtschaftswissenschaften und Philosophie studiert. Er forscht und schreibt derzeit über das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) und unterstützt gesellschaftliche Initiativen zur Einführung des BGE. In der vorliegenden Schrift versammelt er 30 Beiträge zu diesem Thema.

Mit durchschnittlich nur 7 Seiten bleiben die Beiträge notwendigerweise eher thesenhaft als begründend. Die Kürze zwingt einerseits zu einer erfreulichen Konzentration auf das Wesentliche, geht andererseits aber mit einem Mangel an Tiefe einher. Der Vorteil des vorgelegten Sammelbandes gegenüber einer Monographie oder den Sammelbänden von Osterkamp und Butterwegge liegt darin, dass sowohl die Befürwortung als auch die Ablehnung des BGE von einem vielstimmigen Chor von Autoren vorgetragen wird, sodass viele Facetten des Pro und Contra zutage treten. 21 Autoren argumentieren für, 9 gegen das BGE. Eine ganze Reihe von Autoren, allerdings ausschließlich aus der Gruppe der Befürworter, haben an anderer Stelle umfangreiche Arbeiten zur Thematik publiziert. 3 der BGE-Befürworter waren Mitinitiatoren der – abgelehnten – Schweizer Volksinitiative „Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“. Man erkennt insofern einen deutlichen quantitativen Bias zugunsten der BGE-Freunde. Die Hälfte der Beiträge stammt von Politikern und Journalisten, in den Rest teilen sich Philosophen, Soziologen, Ökonomen, Unternehmer und andere. Zu den bekannteren Autoren gehören die Politiker Althaus, Blüm, Stegner, Gysi, Kipping, Wagenknecht und Ströbele, die Journalisten Augstein und Hank, der Unternehmer Werner sowie die Professoren Straubhaar und Höffe.

Wiederkehrende Argumente der BGE-Befürworter sind

(1) der Wegfall der Existenzangst, (2) der Wegfall der Nichtinanspruchnahme von Leistungen, sei es aus Scham, sei es um Angehörigen nicht zur Last zu fallen, (3) der Wegfall von Sanktionen, (4) der Wegfall von Erwerbsarbeit infolge der Digitalisierung, (5) der mögliche Ersatz von unliebsamer, erzwungener Arbeit durch erfreuliche, freiwillige Arbeit, (6) die Verwaltungsvereinfachung und Kostensenkung durch Wegfall vieler sozialer Einzelfallregelungen (7) die finanzielle, absolute Gleichstellung der Geschlechter.

Die BGE-Gegner stellen darauf ab, dass das BGE

(1) sowohl gegen die Bedarfs-, die Tausch- und gegen die Verteilungsgerechtigkeit verstößt, (2) wegen des Verzichts auf Bedürfnisprüfungen gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, (3) Arbeit, Anstrengung und Qualifikationserwerb gegenüber dem Nichtstun entwertet, (4) nicht finanzierbar ist.

Es ist nicht möglich und nicht nötig auf jeden einzelnen der Beiträge hier einzugehen. Einige seien jedoch kurz angesprochen.

Auf der Seite der BGE-Unterstützer ist zum einen der Belgier van Parijs zu nennen. Er ist Professor für Ökonomie, Sozialethik und Philosophie, einer der Gründer des Basic Income Earth Network, BIEN, 1986, und Autor wichtiger Bücher zum BGE (1992, 2017). Er erläutert Begründungen, Charakteristika und Wirkungen des BGE. Er teilt die Sorge von Rifkin, dass die lebenslange Erwerbsarbeit zukünftig die Ausnahme, nicht mehr die Regel sein wird und das BGE die Antwort darauf sei. Er sagt auch, dass das BGE, anders als viele seiner Befürworter, weder die Sozialversicherungsleistungen noch die sozialen Hilfen und damit die Bedürftigkeitsprüfungen vollständig ersetzen soll. Was allerdings dann am BGE noch „bedingungslos“ sein soll, bleibt unklar. Zum anderen ist Götz Werner, Gründer der Drogeriekette dm und ein früher Befürworter eines BGE, mit einem Beitrag vertreten. Er hebt positiv dessen Wirkung, Arbeitszwang in freiwillige Arbeit umzuwandeln, hervor. Sein Vorschlag, zur Finanzierung des BGE eine drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer heranzuziehen, ist aber zurecht auf weitgehende Ablehnung gestoßen. Auf der Seite der BGE-Kritiker ragen die Beiträge von Höffe, Blüm, Stegner und Gentinetta hervor. Höffe, emeritierter Professor für Philosophie in Tübingen, betont in seinem Beitrag die hohe Wertschätzung der Arbeit in christlicher, sozialethischer und philosophischer Tradition. Das BGE breche mit dieser Sicht und laufe daher in Gerechtigkeitsdilemmata hinein. Ferner kann er sich der These vom Ende der Erwerbsarbeit nicht anschließen und verweist auf den hohen zukünftigen Personalbedarf im Sozialwesen, in der Bildung und im Bereich des nachhaltigen Wirtschaftens. Die Politiker Blüm und Stegner, unterschiedlichen Parteien zugehörig, eint die beredte Verteidigung der Erwerbsarbeit und die Überzeugung, dass derjenige, der arbeitet, sich anstrengt, qualifiziert und Verantwortung übernimmt besser gestellt sein muss, als derjenige, der es nicht tut. Die Journalistin Gentinetta bringt ihre Sicht vom BGE zuspitzend auf den Punkt: „Freiheit für alle. Verantwortung für alle anderen.“

Zwei Monita belasten allerdings die Lektüre. Zum einen bringen die zahlreichen Befürwortungen und Ablehnungen des BGE unvermeidlich häufige, ermüdende Wiederholungen der Kernargumente mit sich. Zum anderen fehlt es an einem einleitenden Beitrag, der dem BGE einen begrifflichen Rahmen verleiht. So reden zwar alle Autoren von einem BGE, verstehen aber darunter sehr verschiedene, oft widersprüchliche Sachverhalte.

Ein nur wenig mit der BGE-Materie vertrauter Leser erhält hier einen guten ersten Überblick über die wesentlichen Argumente der Debatte. Zudem ist auch der günstige Preis des Buches ein Argument für seinen Erwerb. ˜

Prof. Dr. Karlhans Sauernheimer (khs) wirkte von 1994 bis zu seiner Emeritierung im März 2010 als Professor für VWL an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er publiziert schwerpunktmäßig zu Themen des internationalen Handels, der Währungs- und Wechselkurstheorie sowie der Europäischen Integration. Er ist Koautor eines Standardlehrbuchs zur Theorie der Außenwirtschaft und war lange Jahre geschäftsführender Herausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftswissenschaften. 

karlhans.sauernheimer@uni-mainz.de

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