Geschichte, Politik, Zeitgeschichte

Andreas Hansert

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2018

Andreas Hansert: Das Senckenberg-Forschungsmuseum im Nationalsozialismus. Wahrheit und Dichtung. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, 301 Seiten, 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3173-0, € 29,90.

Im Jahr 1817 gründeten wissenschaftlich engagierte Bürger in Frankfurt a.M. die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft, die heutige Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SNG), um – auf Anregung von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) – das Erbe des Frankfurter Arztes, Naturforschers und Stifters Johann Christian Senckenberg (1707– 1772) fortzuführen. Die SNG ist ein leuchtendes Beispiel für erfolgreiches Mäzenatentum und zudem größtes Mitglied der von Bund und Ländern geförderten Leibniz-Gemeinschaft. Ihre Forschungseinrichtungen betreiben Spitzenforschung auf dem Gebiet der Geobiodiversität, darunter auch das hier im Fokus stehende Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, eines der größten Naturkundemuseen Europas. Ihr 200-jähriges Jubiläum nahm die SNG zum Anlass, den Historiker und Soziologen Andreas Hansert mit einer historiographischen Untersuchung zu beauftragen, zum einen „aus Gründen der Selbstvergewisserung, aber auch um die Erforschung des Nationalsozialismus um ein weiteres Stück zu ergänzen“ (Volker Mosbrugger, GD der SNG, S. 7). Zeitgeschichtliche Untersuchungen großer Industrieunternehmen, Wissenschaftsgesellschaften, Universitätsinstitute sowie Museen liegen im Trend der Zeit; eigentlich viel zu spät, aber offenbar besteht erst jetzt genügend Distanz, um eine vorurteilsfreie und sachliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vorzunehmen.

„Wahrheit und Dichtung“ lautet der Untertitel des vorliegenden quellengesättigten Werkes. Die Anlehnung an Goethes Autobiographie unter Vertauschung der begrifflichen Reihenfolge signalisiert diskrepante Erkenntnisse zur SNGGeschichte. Zwar ist es normal, dass Forschungsprojekte den Wissenszuwachs fördern und neue Perspektiven eröffnen, aber Hanserts komplexe Hintergrundrecherche übersteigt die Erwartungen bei weitem, womit der „Normalfall“ zu einem „Sonderfall“ wird, so dass die bisherige Chronik „mehr als 70 Jahre nach dem Geschehen damit an ihr Ende gekommen ist“(S. 250).

In den Büchern ihrer ehemaligen Direktoren Waldemar Kramer (1909–1988) zum 150. Jubiläum sowie Willi Ziegler (1929–2002) zum 175. Gedenktag findet sich die offizielle Lesart der SNG-Geschichte im Nationalsozialismus, deren Tenor lautet: „Die Leitung hat keine Schuld auf sich geladen“ (S. 215). Diese Einschätzung fußte auf dem gleichlautenden Protokoll der ersten SNG-Mitgliederversammlung nach dem Krieg, die am 16.02.1946 stattfand. Prof. Dr. Rudolf Richter (1881–1957), geschäftsführender Direktor der SNG und Direktor des Senckenberg-Museums während des ‚Dritten Reichs‘, war damals noch in Rumänien interniert, wurde also in Abwesenheit entlastet. Am 17.05.1947 bescheinigte dann auch die Spruchkammer für Entnazifizierungen dem Hauptprota- gonisten der SNG: „Der Betroffene wird in die Gruppe 5 der Entlasteten eingereiht“ (S. 225).

Die Chronisten perpetuierten die Einschätzung, „in jeder Hinsicht einwandfrei“ gewesen zu sein. Stereotype „Hymnen“ lobten Rudolf Richter, er habe den „»Ehrenschild von Unrecht freigehalten« und Senckenberg zu einem »Hort der Menschlichkeit« gemacht“ (S. 246). Die Recherchen des Autors zerstören das Bild von einer ‚reinen Weste‘.

Sensibilisiert wurde Andreas Hansert durch Widersprüche zwischen Protokollen des Führerbeirats, des Leitungsgremiums der SNG in der NS-Zeit, die sich in den Akten des Hess. Hauptstaatsarchivs Wiesbaden sowie des Instituts für Stadtgeschichte befanden, und ausführlichen „Rechtfertigungsberichten“, die aus dem Nachlass von Rudolf Richter und dessen Frau Emma stammen. Mit kriminalistischer Akribie und fachlicher Exzellenz gelingt dem Autor der schockierende Nachweis, dass Richter Protokolle des Führerbeirats nachträglich umgeschrieben hat, um sein Verhalten während des ‚Dritten Reichs‘ zu beschönigen. Durch umfangeiche Quellenfälschung gelang es ihm, „die Geschichtsschreibung auf eine falsche Fährte zu locken“ (S. 252). Jetzt ist er entlarvt, sein unbescholtener Ruf nicht länger zu halten. Richter hat eine „zweite Schuld“ (sensu Ralph Giordano) auf sich geladen, was die Erforschung seiner „ersten Schuld“ nicht einfacher macht (S. 244). „Wenn sich nun die Quellenbasis selbst als unzuverlässig erweist, tritt eine Krise ein“, klagt der Autor mit Recht und ergänzt, „[d]ie Herausforderung, vor die einen eine solche Arbeit ohnehin stellt, verdoppelt sich“ (s. 252).

Der „Sonderfall“ (s.o.) ist für die SNG eine „schmerzliche Erkenntnis“ (lt. Mosbrugger, Vorwort, S. 8), jedoch für zeitgeschichtlich interessierte Leser dieser Studie insofern eine Art Glücksfall, als hier keine langatmige Quellendokumentation vorliegt, sondern dank komplexer methodischer und quellenkritischer Reflexion und gekonnter Kontextualisierung der Inhalte eine fesselnde Historiographie. In deren Fokus stehen die Rekonstruktion der ‚wahren‘ Rolle des Geologen und Paläontologen Rudolf Richter und der Versuch, dessen unehrenhaftes Rechtfertigungsverhalten zu verstehen, eine aufregende Herausforderung für die Geschichtswissenschaft. In vier großen Hauptkapiteln behandelt Hansert die „Konfliktlagen am Senckenberg vor 1933“, „Die Etablierung des Nationalsozialismus am Senckenberg 1933/34“, “Das Senckenberg-Museum in den 30er Jahren“, „Senckenberg und die Wissenschaft im Krieg“ und „Die Nachbearbeitung des Nationalsozialismus am Senckenberg“. Dabei vernetzt er höchst kompetent und spannend die biographischen, wissenschaftshistorischen, soziologischen und politischen Aspekte. Da das Skandalon, die Quellenfälschung, bereits in der Einleitung thematisiert wird, fesselt die Lektüre seine Leser, die sich ständig fragen: Wie konnte sich die Scientific Community über Jahre so blenden lassen? − Hätte man nicht schon viel früher skeptisch sein müssen? – Gab es schon früher Anzeichen für NS-Verstrickungen? – Wurden Hinweise etwa verdrängt oder gar bewusst ignoriert? – Wie groß waren Richters Verfehlungen in der NS-Zeit wirklich? – Wie erklärt sich Richters enormer Aufwand für die Quellenfälschung? Zieht man eine grobe Bilanz aus Rudolf Richters biographischen Daten, so ergeben sich als belastende Punkte für seine Kooperation, dass er bereits Mitte 1933 in die NSDAP eintrat und wenig später die Leitung seines Hauses auf das Führerprinzip umstellte. Ferner schaffte er die demokratischen Gremien der SNG ab und installierte einen Führerbeirat. War das devote „Selbstgleichschaltung“ (S. 234)? Oder wurde hiermit nur Loyalität signalisiert, um Senckenbergs Eigenständigkeit zu bewahren und dadurch Übergriffe des Regimes zu verhindern, wie Richter in einer seiner Rechtfertigungsschriften behauptet?

Auch die kurz nach der sog. Machtergreifung erfolgte Umbenennung der Zeitschrift Natur und Museum in Natur und Volk (1934-1961) bezeugt trotz anders lautender Begründungen einen nazistischen Bekenntniseifer. Ferner bescheinigte die NS-Dozentenschaft der Frankfurter Universität eine „prononcierte Loyalität Richters zum NS-Regime“ (S. 142). Schließlich stehen Richters Beitrag zum „Reichsbohrprogramm“, der dynamische Aufbau der Mikropaläontologie zur Optimierung der Erschließung von Bodenschätzen sowie die Zusammenarbeit mit der kriegsrelevanten Erdöl-Industrie für engagierte Kooperation mit dem NS-Regime. Oder war die Zusammenarbeit doch nur durch Richters wissenschaftlichen Ehrgeiz begründet?

Auch die letztlich ergebnislosen Bemühungen, Hitler als Schirmherr für sein Haus zu gewinnen und dessen Büste neben der von Goethe zu exponieren, sind schwierig einzuschätzen. War das nur raffinierte Loyalitätsbekundung – wissend, dass es keine Marmorbüste gab? Und wie ist die geradezu possenhaft anmutende Beschaffung der sog. „Göring-Elche“ für das Diorama Frankfurter Urlandschaft einzuordnen, da die Tiere gar nicht vom Reichsjägermeister erlegt worden waren.

Entlastend ist zu werten, dass Richter nachweislich stets ein solidarisches Verhalten gegenüber seinen jüdischen Kollegen und Mitarbeitern zeigte, dass er nie jemanden denunzierte. Die Biographien von Franz Weidenreich (1873–1948), Ordinarius des Anthropologischen Instituts Frankfurt und mit dem Forschungsmuseum assoziiert, sowie des Kustos Fritz Haas (1886–1969) und der Paläoneurologin Tilly Edinger (1897–1967), ehrenamtliche Mitarbeiterin der SGN, belegen das. Offensichtlich nutzte Richter den ihm möglichen Handlungsspielraum, deren Emigration in die U.S.A. kurz vor den NS-Pogromen zu beschleunigen.

Die Begehung des Warschauer Ghettos in 1942 zusammen mit dem Paläontologen Otto H. Schindewolf (1896–1971) und dem wegen seiner Regimekritik ausgewiesenen Geologen Kollegen Roland Brinkmann (1898–1995) muss Richter zutiefst erschüttert und seine ideologische Einstellung gewandelt haben. Seine Abkehr vom NS-Regime dürfte ferner das Schicksal des Ehrenpräsidenten der SNG, Arthur von Weinberg (1860–1943), bewirkt haben, dem Richter sich eng verbunden fühlte. Der „letzte Mäzen“ (sensu Richter) starb im März 1943 an den Haftbedingungen in Theresienstadt. Als zwei Monate später sein tschechischer Kollege, der Paläontologe Jaroslav Šulc (1903–1943), trotz Gnadengesuchs in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde, muss Richter einen endgültigen Wandel vollzogen haben. Öffentlichen Widerstand leistete er jedoch nie, aber „[i]m geschützten Rahmen hat er sich offenbar immer wieder einmal deutlich vom Nationalsozialismus distanziert“ (S. 190).

Die ‚Causa Richter‘ zeigt, wie problematisch das Verhältnis von „Wahrheit und Dichtung“ ist. Im Epilog wechselt Andreas Hansert in die Ich-Form und legt ein beeindruckendes Bekenntnis zur Problematik und Vorläufigkeit seiner Studie ab. Er empfiehlt, mit zeitlichem Abstand eine kritische Überprüfung der Ergebnisse vorzunehmen. Ein beeindruckendes Beispiel geschichtswissenschaftlicher Zurückhaltung und Souveränität!

Für die Auftraggeber der Studie stellt sich die unumgängliche Frage nach einem angemessenen Umgang mit den Ergebnissen. Unbestritten ist, dass Rudolf Richter, der als „Erhalter des Werks“ die höchste Auszeichnung der SGN erhielt, ein international anerkannter Wissenschaftler war, der sich auch organisatorisch – u.a. durch die Erweiterung der Forschungseinrichtungen sowie die Sicherung der Sammlungen während des Krieges – hoch verdient gemacht hat. Diese Meriten gilt es gegen seine nachgewiesene doppelte Schuld abzuwägen und Konsequenzen zu ziehen. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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