Philosophie

150 Jahre Philosophische Bibliothek

Dass eine Buchreihe über einen Zeitraum von 150 Jahren Bestand hat und länger als 100 Jahre von ein und demselben Verlag herausgegeben wird ist ungewöhnlich. Aber interessiert das heute überhaupt noch irgendjemanden? Fragen könnte man z.B.: Kann eine solche Reihe weiterhin Bestand haben? Sollten die Aufgaben eines geisteswissenschaftlichen Verlages heute vielleicht ganz andere sein? Wird es auch künftig Platz geben für veritable, gedruckte Studienausgaben philosophischer Texte?

Die Fakten: vor 50 Jahren gab es in der Philosophischen Bibliothek 116 lieferbare Bände, heute rund 500; damals waren 26 „kanonische“ Philosophen vertreten, heute sind es 161. Neben den Klassikern der Philosophiegeschichte liegen inzwischen auch weniger bekannte Texte im Original, als Übersetzung oder zweisprachig, sorgfältig herausgegeben und aufwändig produziert vor, weit überwiegend auch in elektronischer Form.

Während die Philosophische Bibliothek weiter ausgebaut wurde, ist auf dem Buchmarkt vieles passiert, und Verlage wie Felix Meiner sind heute fast eine Ausnahmeerscheinung. Sortiments- und Verlagsbuchhandel haben einen tiefgreifenden Wandel erlebt. Wo in Universitätsnähe früher ein Dutzend Buchhandlungen zu finden war, dominieren heute Coffee-Shops, Hair-Stylisten und Sushi-Bars. Großkonzerne dominieren den Handel, die Zahl der Buchkäufer nimmt dramatisch ab.

Zu den Rahmenbedingungen für einen geisteswissenschaftlichen Verlag zählen heute ferner: der Reformaktionismus an den Universitäten; die Neuausrichtung des bibliothekarischen Selbstverständnisses, incl. der Kürzung und Umschichtung von Anschaffungsetats von Print zu Digital; die Ideologisierung der Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik (Stichwort Open Access); der Kampf um die Ressourcen; die Entwicklung des Urheberrechts zur Gratismentalität. Dabei wäre es womöglich sinnvoller, sich auf den Fortgang der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hegel zu konzentrieren.

Die Ökonomie des gegenwärtigen Wandels kommt den traditionell kleinen und mittelständischen Betrieben des herstellenden und verbreitenden Buchhandels, insbesondere im Bereich der Geisteswissenschaften, nicht gerade entgegen. Umso erfreulicher ist das 150jährige Bestehen der Philosophischen Bibliothek, zu deren Überleben gewiss eine konservative Grundeinstellung des Verlages, der Verzicht auf modische Trends und Wachstum um jeden Preis, hohe Qualitätsstandards und ein gerütteltes Maß an „Liebe zur Weisheit“ beigetragen haben.

So könnte die Antwort auf die eingangs gestellten Fragen lauten:

Die Aufgabe der Philosophischen Bibliothek ist auch nach 150 Jahren nicht erfüllt. Ob es aber auch künftig anspruchsvolle Studienausgaben philosophischer Texte geben wird, hängt nicht allein vom Verlag ab. So hat schon dessen Gründer Felix Meiner als Grundvoraussetzung eines unabhängigen Verlages dessen ökonomische Souveränität postuliert; alles benötigte Geld müsse „auf dem Markt“ verdient werden, und auf Drittmittel solle nach Möglichkeit verzichtet werden.

Elektronische Publikationen werden übrigens in den Geisteswissenschaften bisher nur wenig nachgefragt. Zwar investiert der Meiner-Verlag massiv in digitale Angebote, doch besteht der Wunsch nach Digitalveröffentlichungen weniger bei den eigentlichen Rezipienten oder den Autoren, sondern eher bei den Bibliotheken, den Forschungsgesellschaften und der Politik, die allerdings gleichzeitig das Digitalgeschäft der kleinen und mittelständischen Verlage hintertreiben (Stichwort: Urheberrechtsreform; DEAL-Verhandlungen). Trotz allem stellt man sich bei Meiner der Aufgabe, veränderten Lesegewohnheiten und neuen technischen Rezeptionsmöglichkeiten mit qualitätvollen Angeboten entgegenzukommen. Dementsprechend verzeichnet das Jubiläumsjahr in gedruckter wie digitaler Form wieder eine Fülle staunenswerter neuer Textausgaben, z.B. die aufwändige Edition des Fragment gebliebenen „Fliegenden Briefes“ des radikalen Aufklärers Johann Georg Hamann; eine kommentierte Neuedition der Spätschrift des Aristoteles „De motu animalium“, in der es darum geht, wie die Seele den Körper bewegt; die historisch-kritische Ausgabe der bedeutenden Schrift des jüdischen Philosophen und Mediziners Marcus Herz „Versuch über den Schwindel“; einen Schlüsseltext der Philosophischen Anthropologie, d.i. „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ von Max Scheler, textkritisch ediert; etc. pp. Nicht zu vergessen die zwölf besonders preisgünstigen Jubiläumsausgaben mit zentralen Texten aller Epochen von Aristoteles bis zu Ernst Cassirer. In einer Zuschrift, die den Verlag kürzlich von einem renommierten Philosophen erreichte, heißt es: „Nachdem ich Ihre Jubiläums-Vorschau durchgeblättert habe, möchte ich es nicht versäumen, dem Meiner-Verlag meine Anerkennung auszusprechen. Diese beharrliche Traditionspflege über anderthalb Jahrhunderte hin bei gleichzeitiger Offenheit für Fragen der Gegenwart ist imponierend.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. 

1868 Gründung durch den Juristen, Politiker und Philosophen Julius Hermann von Kirchmann (1802–1884), »herausgegeben, beziehungsweise übersetzt, erläutert und mit Lebensbeschreibungen versehen«, in der seit dem Vorjahr bestehenden Sortiments- und Antiquariats-Buchhandlung L. Heimann in Berlin. Als Band 1 erscheint Kirchmanns »Lehre vom Wissen als Einleitung in das Studium philosophischer Werke«, ferner Texte von Kant, Schleiermacher und Spinoza. 

1872 Übernahme durch Erich Koschny, ab 1874 in Leipzig unter dem Namen Erich Koschny (L. Heimann’s Verlag). 

1882 Die Verlag Erich Koschny erlischt am 1. Januar und geht am gleichen Tage an Georg Weiss in Heidelberg über, »welcher denselben mit dem seinigen vereinigt«. 

1884 Bis zu Kirchmanns Tod sind von 21 Autoren 105 Titel in 160 Ausgaben erschienen. 

1891 Georg Weiss verkauft seinen »philosophischen und historischen Verlag« an Dr. R. Salinger in Berlin. 

1900 Die Dürr’sche Buchhandlung in Leipzig übernimmt den Verlag Dr. R. Salinger. Der Theologe Friedrich Michael Schiele (1867–1913) wird Herausgeber der PhB. 

1911 Am 1. April gründet Dr. Felix Meiner unter seinem Namen einen Verlag, der sich »hauptsächlich die Pflege der sozialwissenschaftlichen, historischen und philosophischen Wissenschaften zu Aufgabe machen wird«. Als Grundstock erwirbt Meiner von Dürr die philosophische Abteilung, speziell die bekannte Philosophische Bibliothek mit rd. 130 lieferbaren Titeln. Die im Fritz Eckardt Verlag begonnenen Werkeausgaben von Fichte, Hegel, Schelling und Schleiermacher werden integriert. 

1913 Felix Meiner übernimmt die Herausgeberschaft. In den Folgejahren zahlreiche Neueditionen (Aristoteles, Berkeley, Brentano, Descartes, Hegel, Kant, Leibniz, Nikolaus von Kues, Platon, Plotin, Spinoza) und neue Autoren (d’Alembert, Bolzano, Comte, Damaskios, Diogenes Laertius, Ficino, Herbart, Hobbes, Krause, Libanios, Lotze, Thomas von Aquin). 

1923 Während der Hyperinflation mit 15 neuen Bänden das bislang »innovativste« Jahr, z.B. mit Augustinus, Chr. J. Boström, E. v. Hartmann, Jean Paul, Maimonides und Seneca.

1933 Brentanos »Kategorienlehre« als einziger neuer Titel. In den Folgejahren bis weit nach Kriegsende erscheinen gar keine oder nur vereinzelt Neuerscheinungen. 

1944 Johannes Hoffmeister: »Wörterbuch der philosophischen Begriffe« 

1948 16 lieferbare Bände.

1955 Erstmals zweisprachige Ausgaben (d’Alembert, Rousseau). 

1959 Hans Walter Bähr schreibt in der Universitas, die PhB sei »eine verlegerische Kulturleistung ersten Ranges«. 

1968 Im Jubiläumsjahr sind 116 Bände lieferbar. Carl Friedrich von Weizsäcker hält die Festrede »Die Rolle der Tradition in der Philosophie«. 

1981 196 lieferbare Bände.

1983 Die PhB »erreicht einen Editionsstandard, der kaum noch übertreffbar erscheint« (Rainer Bast: Die Philosophische Bibliothek, 1991). Friedhelm Nicolin hebt die doppelendige Position dieser Textsammlung zwischen philosophischem Studium und philosophischer Forschung hervor. 

1985 231 lieferbare Bände. 1989 Der durchschnittliche Ladenpreis eines Bandes beträgt DM 1,96 pro Bogen (16 Seiten). 

1991 304 lieferbare Bände. 

1996 Erste Textausgabe eines chinesischen Autors »Chang Tsai: Rechtes Auflichten« (Cheng-meng) 

2006 Neu erarbeitete Studienausgaben von Abaelard, Albertus Magnus, Augustinus, Pierre Bayle, Eduard von Hartmann, Leibniz, Mendelssohn, Mill, Pascal, Wolff sowie eine Textsammlung »Wiener Kreis«. 

2008 Diverse Titel werden in einer elektronischen Version als eBook verfügbar gemacht. Dazu gehören Textausgaben von Augustinus, Baumgarten, Bayle, Cassirer, Descartes, Kant, Leibniz, MerleauPonty, Ricoeur, Schelling und Spinoza sowie das »Wörterbuch der philosophischen Begriffe«. 

2010 Mit dem »Lehrgedicht über den mittleren Weg« von Nagarjuna (2./3. Jhdt.) erscheint ein buddhistischer Text. 

2011 Neue Textausgaben von Aristoteles, Bergson, Descartes, Mill, Nelson, Reichenbach, Ricoeur und Reinhold. Dreibändiges Werk zur Philosophie der Antike »Den Anfang denken« von Alfons Reckermann.

2012 Neue Textausgaben von Albert dem Großen, Aristoteles, Bolzano, Krochmal, Reinhold, Sherwood und Spinoza. Dreibändige Quellensammlung zum Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft, Religion und Weltanschauung im 19. Jahrhundert. 

2013 Neue Textausgaben von Bergson, Cassirer, Descartes, Hegel und Mendelssohn sowie eine sechsbändige Nietzsche-Ausgabe. 

2014 Neue Textausgaben von Descartes, Ewing, Ficino, Parmenides, Scheler, Spinoza sowie der dialogische Kommentar zu Hegels »Phänomenologie des Geistes« von Pirmin Stekeler in zwei Bänden. Die ersten hundert Jahre der PhB nimmt eine Ausstellung der Leipziger Universitätsbibliothek Albertina unter dem Kurztitel »Philosophie in Grün« in den Blick. 

2015 Neue Textausgaben von Avempace (Ibn Baddscha), Roger Bacon, Bergson, Bessarion, Dante, Descartes, Duns Scotus, Galilei, Hobbes, Kapp, Proklos und Tetens. Das Börsenblatt schreibt: »Die Philosophische Bibliothek aus dem Hause Meiner ist ein Glücksfall für alle, die sich mit großen Denkern befassen möchten«. 

2016 Neue Textausgaben von Bergson, Hume, James, Jankélévitch und Schelling. Auf der verlagsübergreifenden Plattform digitaler-semesterapparat.de können sich Hochschulen seit Jahresbeginn Auszüge von 345 Titeln der Philosophischen Bibliothek zur Nutzung genehmigen lassen. 

2017 Neue Textausgaben von Aristoteles, Roger Bacon, Hegel, Hobbes, Lotze, Schopenhauer, Solger, Spinoza und Platon. Ende des Jahres sind 506 Titel als gedruckte Ausgabe lieferbar, 469 als eBook.

Manfred Meiner, Jahrgang 1952, führt heute zusammen mit seinen Söhnen Jakob (Jahrgang 1982) und Johann (Jahrgang 1985) den von seinem Großvater 1911 in Leipzig gegründeten und seitdem in Familienbesitz befindlichen Felix Meiner Verlag, dessen „Markenkern“ die Philosophische Bibliothek bildet. Seit 1951 ist der Verlag in Hamburg ansässig. Er veröffentlicht u.a. große Werkausgaben von Giordano Bruno, Ernst Cassirer, Nicolaus Cusanus, G.W.F. Hegel, F.H. Jacobi, G.W. Leibniz und Baruch de Spinoza sowie wichtige Beiträge zur philosophischen Forschung in Periodika, Reihen und Zeitschriften in gedruckter wie in elektronischer Form.

meiner@meiner.de

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