Zeitgeschichte

100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland und Österreich

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2019

Deutschland und Österreich zählen zu den Vorreitern des Frauenwahlrechts in Europa. In beiden Ländern wird dieses Recht 1919 eingeführt. Am 12. November 1918 veröffentlicht der Rat der Volksbeauftragten einen Aufruf an das deutsche Volk, in dem es u.a. heißt: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“ Dieses neue Wahlrecht wird mit einer Verordnung über die Wahlen zur verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung vom 30. November gesetzlich fixiert.

Fast zeitgleich folgen dann zahlreiche andere europäische Länder. Finnland war allen voraus und Vorreiter: dort konnten Frauen ab 1906 wählen gehen.

Mit erschreckend großem zeitlichem Abstand folgen dann im Jahr 1971 die Schweiz auf Bundesebene, Portugal 1974 und Liechtenstein 1984!

Der Kampf um das Frauenwahlrecht hat eine lange Geschichte. Wir stellen einige Publikationen zum Thema vor.

Ute Gerhard: Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. 3., aktualisierte Aufl. München: Verl. C.H. Beck, 2018. 128 S. ISBN 978-3-406-71841-0 € 9.95

„Die mehr als 200-jährige Geschichte des neuzeitlichen Feminismus stellt einen großen Schatz von historischem Wissen, Einsichten und kritischer Analyse bereit, den zu bewahren sich lohnt.“ (S. 125) Dazu leistet Ute Gerhard, die erste Inhaberin eines Lehrstuhls für Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland, mit dieser Einführung und Zusammenfassung zum Thema Frauenbewegung und Feminismus einen wichtigen Beitrag. Dies ist in den bisherigen drei Auflagen 2009, 2012 und 2018 zugleich eine Weiterführung und Ergänzung zu Rosemarie Nave-Herz Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. Frauenbewegung bezeichnet nach Ute Gerhard „wie andere soziale Bewegungen bestimmte Formen gemeinsamen sozialen Handelns, die darauf gerichtet sind, sozialen Wandel herbeizuführen und … insbesondere im Geschlechterverhältnis Bevormundung, Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheiten zu beseitigen … Der Begriff Feminismus, obwohl auch er zur Bezeichnung der sozialen Bewegungen der Frauen gebraucht wird, hat noch eine weitergehende Bedeutung … verweist auf eine politische Theorie, die nicht nur einzelne Anliegen verfolgt, sondern die Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse im Blick hat, also einen grundlegenden Wandel der sozialen und symbolischen Ordnung … anstrebt und gleichzeitig Deutungen und Argumente zu ihrer Kritik anbietet.“ (S. 6-7) Die Gliederung des Stoffes folgt weitgehend politischen Wendepunkten: die „Zeitenwende in den Geschlechterbeziehungen“ (S. 9) in der Französischen Revolution, die Anfänge einer organisierten Bewegung um die 1848er Revolution, die Höhepunkte der Organisation und öffentlichen Wirkung um die Wende zum 20. Jahrhundert und der Aufstieg der Frauen zu gleichberechtigten Staatsbürgern nach dem Ersten Weltkrieg (einschließlich der Einführung des Frauenstimmrechts), die Zeit zwischen und nach den Weltkriegen von 1919 bis 1949 bis hin zur Ende der 1960er Jahre entstehenden sog. „neuen Frauenbewegung“ sowie die Situation der Frauen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf den 120 Seiten Text gibt es nur dicht gedrängte Informationen, und das lädt zu weiteren Entdeckungen in anderen Publikationen ein. Es ist ein gelungener, blendend geschriebener Einstieg und ein Kaleidoskop bekannter und unbekannter Frauenrechtlerinnen mit viel August Bebel, Clara Zetkin und Minna Cauer, Helene Lange und Helene Stöcker und Gertrud Bäumer und wenig Hedwig Dohm und Anita Augspurg und ohne Bertha von Suttner, der Rezensent hat sie bei fehlendem Personenregister nicht entdecken können. Schwerpunkt ist zwar Deutschland, aber es gibt auch Ausflüge ins europäische Umland und nach Übersee.

 

Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa / Hrsg. Hedwig Richter, Kerstin Wolff. Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlagsges. 2018. 294 S. ISBN 978-3-86854-323-0 € 30.00

Die Autoren beschreiben die Geschichte des Frauenwahlrechts unter dem Leitspruch „Demokratiegeschichte als Frauengeschichte“. Sie wehren sich gegen die Darstellung des Kampfes um das Frauenwahlrecht allein als eine Geschichte gewalttätigen Kampfes, die am Ende des Weltkrieges dieses Wahlrecht hervorbringt. Damit wird die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts formierende Frauenbewegung ebenso missachtet wie die Komplexität des ganzen Prozesses. Die Beiträge erzählen eine andere Geschichte, „die Einführung des Frauenwahlrechts zwingt dazu, alte Narrative zu überdenken und den Blick zu weiten.“ (S. 58) Das geschieht in drei Richtungen:

Eine erste Perspektiverweiterung im Sinne der Nutzung eines weiten Begriffs von Politik und citizenship („domestication of politics“) während des 19. Jahrhunderts, „das bedeutet einerseits die Inkorporation der häuslichen Sphäre in die Politik, andererseits die Zähmung des zuvor als männlich gedachten politisch-öffentlichen Einflussbereichs“ (S. 9) – hier genannt Raum mit einem großartigen einleitenden Beitrag zur Geschichte des Wahlkampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland und mit Beiträgen zu den vielfältigen Partizipationsrechten, die Frauen besitzen, bevor sie das nationale Wahlrecht erhalten. Eine zweite Perspektiverweiterung ist die anwachsende internationale Vernetzung der Welt im Rahmen einer allgemeinen Demokratiegeschichte und damit auch das transnationale Verständnis der Frauenbewegung – hier genannt Körper, „während die moderne staatliche Ordnung konstitutiv war, dass das souveräne Subjekt, der Mann, seinen Körper bezähmt, galt die Frau durch die Möglichkeit einer Mutterschaft als von ihrem Körper beherrscht“ (S. 25-26), in den Beiträgen wird eine Analyse des Körpers vorgenommen, u.a. über Suffragetten als Eroberinnen des politischen Raumes und die Zusammenhänge zwischen Frauenwahlrecht und Prostitution.

Eine dritte Perspektiverweiterung ist die Lösung von der exklusiven Verbindung der Demokratie mit Männlichkeit hin zu einer geschlechtlich praktizierten Demokratie von Männern und Frauen – hier genannt Sprechen, „der körperlichen Herrschaftsaneignung, der Besetzung des staatlichen Raums entsprach das öffentliche Sprechen“ (S. 28) mit Analysen u.a. zur politischen Partizipation und Frauenwahlrecht bei Louise Otto-Peters und zu den Landtagskandidatinnen in Sachsen 1919–1933.

Die Autoren beschreiben eine der faszinierendsten Seiten der Demokratiegeschichte: Frauen erobern sich weltweit den öffentlichen Raum. Aber: Das Wahlrecht ist nur „eine Zwischenposition in einem Prozess der Inanspruchnahme und Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte, der im Grunde bis heute anhält“ (S. 247).

 

100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht! … und weiter? Hrsg. Isabel Rohner, Rebecca Beerheide. Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer Verl., 2017. 204 S. ISBN 978-3-89741-398-6 € 18.00

Die Fassungslosigkeit über den Wahlsieg von Donald Trump und dessen unverhohlene Frauenfeindlichkeit und die immer wieder aufkeimende Meinung einiger Männer, Frauenrechte seien „plötzlich wieder verhandelbar“ (S. 10), bringt die Herausgeberinnen auf die Idee zu einem Buch, in dem Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auf die Fragen „Was verbindet Sie heute mit dem Frauenwahlrecht? Welche Bedeutung hat es für Sie – und welche Wertschätzung wird ihm entgegengebracht? Welche Verantwortung hat jede einzelne von uns – und welche Wege und Möglichkeiten gibt es, dieser Verantwortung nachzukommen?“ antworten. „So unterschiedlich die Persönlichkeiten, Interessen und Lebenssituationen der einzelnen Autorinnen sind, so unterschiedlich sind auch die Herangehensweisen“ (S. 11) Allen 24 Beiträgen gemein sind Reflexionen über das erreichte Ziel des Frauenwahlrechts und zugleich Antworten auf die Frage, wie es mit den Frauenrechten und der Emanzipation der Frauen weitergehen sollte. Die Direktorin in der Europäischen Zentralbank Sabine Lautenschläger schreibt, dass Gleichberechtigung kein Elitenprojekt sein darf, „das sich in seinen Forderungen und seiner Sprache nur mehr an einen kleinen, exklusiven Kreis von Frauen richtet“ (S. 16-17), „was bisher erreicht wurde, kam nicht von selbst. Und was noch erreicht werden muss, wird auch nicht von selbst kommen“ (S. 15). Die heutige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig weist darauf hin, dass es immer noch vieles gibt, „was Frauen zu unrecht vorenthalten wird.“ (S. 51) Die frauenpolitische Sprecherin der Linken Cornelia Möhring billigt der Marxistin Clara Zetkin das Recht als zentrale Kämpferin für das Frauenwahlrecht zu, ignoriert leider bürgerliche Frauenrechtlerinnen wie Hedwig Dohm, trotzdem meint sie „wir müssen den Mut haben, unsere Demokratie weiter zu verbessern. Im Sinne aller Bürgerinnen und Bürger.“ (S. 182) Die frühere Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberg meint, es gäbe noch viel zu tun, insbesondere wenn sie an den sexuellen Missbrauch auch in den Familien und an die kulturellen Unterschiede denkt, die „die gleichberechtigte Stellung der Frau grundsätzlich in Frage“ stellen (S. 69).

Unvermutet finden sich verstreut drei exzellente Beiträge zur Geschichte der Frauenbewegung: die Historikerin Nikola Müller bietet eine Zusammenfassung des langen Kampfes um die politische Gleichberechtigung von 1848 bis 1918, die Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems Ulrike Guérot sieht die Frauenrechte in der Renationalisierungsdebatte und bei Populisten „selten in guten Händen“ (S. 116), die Mit-Geschäftsführerin im Archiv der deutschen Frauenbewegung Kerstin Wolff äußert sich in einem Interview zu den Lehren aus den historischen Frauenbewegungen.

Ein starkes, ein facettenreiches Buch zu Frauenrechten im 21. Jahrhundert!

 

Rita Kohlmaier: »Ich habe etwas zu sagen«. Frauen, die das Wort ergreifen. München: Elisabeth Sandmann Verl., 2018. 136 S. ISBN 978-3-945543-58-0 € 24.95

„Dieses Buch ist Gold wert. Schenken Sie es Ihren Freundinnen und Freunden, zu Festen und als Mitbringsel zum Abendessen. Verbreiten Sie die Botschaft, wie jung unsere Rechte sind, wie hart sie erkämpft wurden und dass wir weiterkämpfen müssen, um auch laut, raumeinnehmend, mächtig und stark sein zu dürfen.“ (S. 8, Stevie Meriel Schmiedel im Vorwort) Eine Aufforderung, der die Leserinnen und Leser unbedingt nachkommen sollten! Ich habe etwas zu sagen. Was ich zu sagen habe, ist wichtig. Ich habe etwas zu sagen. Die Schriftstellerin und Pazifistin Annette Kolb will mit diesem 1931 getätigten Ausspruch den Anspruch auf eine Meinungsführerschaft erheben, „eine Weltsicht vermitteln, die auch für andere Gültigkeit, Verbindlichkeit erlangen“ (S. 10) soll. Das ist das Motto dieses vorzüglichen Buches.

„Weibliche Lebensthemen“ (S. 14) sind die Forderung nach Bürgerrechten und Bildung, der Kampf gegen Gewalt, Antisemitismus oder Apartheid. Für diese Auftritte werden die Frauenrechtlerinnen beschimpft, bedroht, geschmäht und inhaftiert.

Hier kommen charismatische, unbequeme und couragierte Frauen zu Wort, die etwas zu sagen haben und sich nicht den Mund verbieten lassen, Frauen, die mit ihren Reden und Aktionen die Welt verändert haben oder jetzt verändern. Es sind 28 großartige, leider viel zu kurze Porträts: Waris Dirie macht ihre Genitalbeschneidung öffentlich und Caitlyn Jenner berichtet über ihre Geschlechtsangleichung, da sind die Vorkämpferin für das Gesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Frankreich und erste Präsidentin des Europa-Parlaments Simone Veil, die Kämpferin für den Erhalt der Habitate der Primaten und schonungslose Kritikerin der Umweltsünden mittels Agrochemie Jane Goodall, die Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai und die Kämpferin für strengere Waffengesetze in den USA Emma González, dazu Reden von Michelle Obama, Hillary Clinton, Monica Lewinsky und Astrid Lindgren und Erinnerungen an große Vorbilder wie Rosa Parks, Sophie Scholl und Simone de Beauvoir.

Eine ungewöhnliche, aber großartige Komposition von Porträts.

 

Die Frauen und der politische Katholizismus. Akteurinnen, Themen, Strategien. Hrsg. Markus Raasch, Andreas Linsenmann. Paderborn: Verl. Ferdinand Schöningh, 2018. VI, 371 S. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe C. Band 1) ISBN 978-3-506-78906-8 € 59.00

Recherchen der Herausgeber ergeben, dass zum politischen Katholizismus und der Deutschen Zentrumspartei DZP als ihre Vertreterin zwar Gesamtdarstellungen und Quellensammlungen existieren, über die inhaltliche Arbeit und das ideengeschichtliche Fundament geforscht wird, zahlreichen Politikern Biographien gewidmet werden, aber Frauen „in der umfangreichen Historiografie bislang lediglich am Rande“ auftreten (S. 8), selbst über bedeutende Zentrumspolitikerinnen ist wenig publiziert. Zu den großen Lücken zählen beispielsweise „die Frage nach der Rolle der Frauen im Selbstverständnis, im Programm und im politischen Alltag der Deutschen Zentrumspartei … die Einflüsse von Frauen, zumal aus dem familiären Kontext, auf Parlamentarier und Regierungshandeln.“ (S. 12) Dieser Mangel soll in elf Beiträgen fragmentarisch behoben werden, indem die Autoren verschiedene Aspekte wie die Einflüsse von Frauen auf männliche Politiker, die Kämpfe von Frauen um politischen Einfluss sowie das Wirken der Parlamentarierinnen der DZP untersuchen. Gleichzeitig sollen Perspektiven für die künftige Beschäftigung mit den Frauen des politischen Katholizismus ausgelotet werden. Ein neues Betätigungsfeld ist der Kampf der katholischen Frauenbewegung für das Frauenwahlrecht, der bis zum Ersten Weltkrieg keine relevante Rolle spielt, „ja sie waren vielleicht belächelt oder als sozialistische Forderung öffentlich zurückgewiesen worden“ (S. 241). Zahlreiche Frauen kämpfen für dieses Recht, einige ziehen für die DZP 1919/20 in die Weimarer Nationalversammlung und anschließend in den Reichstag ein, darunter Agnes Neuhaus, die Mitbegründerin des Sozialdienstes katholischer Frauen, Christine Teusch, Mitarbeiterin im Generalsekretariat der christlichen Gewerkschaften in Köln, Helene Weber, Leiterin der Sozialen Frauenschule in Aachen und Helene Wessel, die später in führenden Funktionen der Zentrumspartei tätig ist. Die bedeutende Programmatikerin der katholischen Frauenbewegung Elisabeth Gnauck-Kühne, die heute als erste deutsche Sozialpolitikerin gilt, erlebt diesen Sieg der Frauenbewegung nicht mit, sie stirbt 1917. Eine wichtige Veröffentlichung über die Geschichte der katholischen Frauenbewegung und die deutsche Parlamentarismus- und Demokratiegeschichte von der Grün-

dung der Zentrumspartei 1870 bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik.

In Österreich erhalten die Frauen am 12. Novem­ber 1918 durch das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich das allgemeine Wahlrecht.

 

Petra Unger: Frauen Wahl Recht. Eine kurze Geschichte der österreichischen Frauenbewegung. Wien, Berlin: mandelbaum kritik & utopie, 2019. 145 S. ISBN 978-3-85476-688-9 € 10.00

Die drei Worte im Titel Frauen Wahl Recht der Publikation schließen sich in der Geschichte der Menschheit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Petra Unger spannt einen weiten Bogen und zeigt den dornenreichen langen Weg auf, den österreichische Frauen, ausgeschlossen von gleichberechtigter Teilhabe an Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft, gehen, um Anerkennung zu erlangen. Da sind die Anfänge der Frauenbewegung und die Gründung von Frauenvereinen und der erste große Erfolg mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 mit völliger Gleichstellung als Bürgerinnen – ein Jahr später ziehen die ersten Frauen in den Nationalrat ein: sieben Sozialdemokratinnen und eine christlich-soziale Abgeordnete. Die erste Rede einer Frau hält Adelheid Popp zur Abschaffung der Adelsprivilegien.

Es gibt immer wieder Rückschritte wie unter dem Austrofaschismus und dem Nationalsozialismus. Es folgen nach dem Zweiten Weltkrieg die Errungenschaften der autonomen Frauenbewegungen in den 1960er und 1970er Jahren und die Umsetzung von Gleichbehandlungs- und Gewaltschutzgesetzen Ende des vergangenen Jahrhunderts. Diese Gesetze führen zu grundlegenden Verbesserungen der Frauen. Ende des vergangenen Jahrhunderts kommen neue Probleme auf die Frauenbewegung zu: „Junge, migrantische Frauen, die in Österreich geboren sind, stehen vor derselben Unmöglichkeit, wie österreichische Frauen vor hundert Jahren: Sie arbeiten, zahlen Steuern, gestalten Gesellschaft und sind dennoch von politischer Mitsprache weitgehend ausgeschlossen.“ (S. 127) Ausgeschlossen sind auch Personen, die außerhalb sog. traditioneller heterosexueller Normen leben. Es gibt noch viel zu tun, denn „je emanzipierter und freier Frauen sind, umso emanzipierter ist die gesamte Gesellschaft.“ (S. 126).

Es ist ein brillantes Buch über die österreichische Frauenbewegung. „Den Frauen diene dieses Buch zur Ermutigung, den Männern zur Erweiterung ihres Geschichtsverständnisses und den kommenden Generationen möge es ein kleiner Mosaikstein auf dem Weg zur Erfüllung des großen demokratischen Versprechens von Frieden, Freiheit und gleichen Rechten für alle Geschlechter sein.“ (S. 9)

 

Gernot Trausmuth: »Ich fürchte niemanden« Adelheid Popp und der Kampf für das Frauenwahlrecht. Wien, Berlin: mandelbaum verlag, 2019. 303 S. ISBN 978-3-85476-591-2 € 19.00

August Bebel schreibt das Vorwort zu Adelheid Popps 1909 erscheinenden Buch „Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ und bemerkt: „Ich habe selten mit tieferer Regung eine Schrift gelesen als die unserer Genossin“, Clara Zetkin schreibt in einem Brief an die Verfasserin, diese Schrift sollte „den Proletarierinnen aller Länder sehr wertvoll“ sein (S. 296), begeistert von der jungen aufstrebenden Genossin ist auch Friedrich Engels, wie ein Brief aus dem Jahr 1893 zeigt (S. 51).

Das alles ist Adelheid geb. Dworak (1869–1939) nicht in die Wiege gelegt, denn sie stammt aus sehr schwierigen sozialen Verhältnissen und wächst in Armut und Bildungsferne auf. Von ihren Brüdern zu Arbeiterversammlungen mitgenommen, erwacht in ihr der Kampfeswille. Sie lernt Lesen und Schreiben, liest sozialistische Schriften, hält erste Reden über die Situation der Arbeiterinnen in den Betrieben und schreibt darüber in Zeitungen. 1892 wird sie verantwortliche Redakteurin der neu gegründeten österreichischen Arbeiterinnen-Zeitung (diese Funktion übt sie bis 1934 aus). 1902 gründet sie mit anderen Frauen den „Verein sozialdemokratischer Frauen und Mädchen“, der zur Keimzelle der sozialdemokratischen Frauenorganisation und der wichtigsten Plattform für die Durchsetzung des Frauenwahlrechts wird. Beeindruckend ist ihr unermüdliches Engagement für das Frauenwahlrecht, der Kampf um die Gründung selbständiger Frauenorganisationen und ihr Einsatz gegen den drohenden Krieg und die Kriegsbegeisterung großer Teile der Bevölkerung, auch der Frauen.

Ihr Ehemann ist Julius Popp, ein enger Freund und Mitarbeiter des sozialdemokratischen Parteiführers Victor Adler. Das alles und noch viel mehr wird in einem außergewöhnlichen, erstklassig recherchierten Buch dargeboten, aber „angesichts der Fülle an Material“ (S. 8) wird die Arbeit leider zeitlich mit dem Einzug Adelheid Popps in das Parlament im Februar 1919 und ihrer flammenden Rede zur Abschaffung von Adelsprivilegien begrenzt, sie ist die erste Frau am parlamentarischen Rednerpult.

So können wir nur hoffen, dass der Autor Zeit für eine dringend notwendige Fortsetzung findet. Denn es gibt noch viel zu berichten: Adelheid Popp gehört bis 1923 dem Wiener Gemeinderat und bis 1933 dem Parteivorstand an, sie wird 1919 Abgeordnete zum Nationalrat und bis 1934 mehrmals wieder gewählt, 1929 erscheint ihre Geschichte der sozialdemokratischen Frauenbewegung Österreichs unter dem Titel „Der Weg zur Höhe“. 1939 verstirbt Adelheid Popp.

Dieser Pionierin der österreichischen Frauenbewegung hat Gernot Trausmuth zum 150. Geburtstag und 80. Todestag ein Denkmal gesetzt.

 

Rosa Mayreder: Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays / Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Eva Geber. Wien, Berlin: mandelbaum verlag, 2018. 438 S. ISBN 978-3-85476-559-2 € 25.00

Auch Rosa Mayreder geb. Obermayer (1858–1938) ist eine der bedeutendsten österreichischen Frauenrechtlerinnen, allerdings mit einem vollkommen anderen Hintergrund als Adelheid Popp. Sie entstammt einer wohlhabenden Wiener Gastwirtsfamilie und kann sich früh als Malerin und Schriftstellerin betätigen, früh kämpft sie auch gegen das männliche Primat in Kultur und Bildung, später finden wir sie auch als Musikerin und Librettistin. Ihr Mann Karl Mayreder (1856–1935) ist Architekt und später Professor für Baukunst der Antike an der Technischen Hochschule, etliche Projekte der Wiener Stadtplanung gehen auf ihn zurück. Im Gegensatz zu Popp kämpft Mayreder nicht für eine Klasse und damit das Aufbegehren der Masse, sondern für den Einzelnen. Im Mittelpunkt steht die Freiheit der Individualität, das souveräne Recht des Einzelnen (ein Kapitel ihrer Kritik der Weiblichkeit ist mit „Perspektiven der Individualität“ überschrieben).

Die 500-Schilling-Banknote von 1997zeigt auf der Vorderseite ein Porträt von Rosa Mayreder und auf der Rückseite Rosa und Karl Mayreder und ein Gruppenbild der Teilnehmerinnen des Bundestags Österreichischer Frauenvereine in Wien 1911. Und diese Banknote führt uns zur Frauenrechtlerin Rosa Mayreder.

Unter dem Titel Zur Kritik der Weiblichkeit führt Eva Gerber zwei Schriften zusammen, die gleichnamige von 1905 und die 1923 erscheinende Weiblichkeit und Kultur. Sie werden von Gerber ergänzt durch einen Beitrag „Rosa Mayreder – Visionäre Theoretikerin des Feminismus“, eine leider nur bis 1988 reichende Bibliographie, eine Kurzbiographie und ein Glossar der Personen, die von Mayreder erwähnt werden, allerdings ohne Hinweise auf die entsprechende Seite.

Inhalt beider Essays fasst die Autorin so zusammen: „In der Kritik der Weiblichkeit habe ich mich vornehmlich mit der Geschlechtspsychologie als einem Problem der individuellen Anlage beschäftigt … Hier aber betrachte ich in erster Linie die Werte sozialer und kultureller Art, die den Lebensformen der Geschlechter zugrunde liegen und über den Einzelnen, soweit er ein soziales Wesen und durch Kultureinflüsse bestimmbar ist, Macht ausüben.“ (S. 196) Mayreder engagiert sich in erster Linie im radikalen Flügel der Frauenbewegung, wegen ideologischer Differenzen wird sie eher zur Einzelkämpferin, tritt 1903 aus dem von ihr 1893 mitbegründeten Allgemeinen Österreichischen Frauenverein aus, 1907 wird sie Mitbegründerin des Vereins zur Bekämpfung der Prostitution und Mitglied der Soziologischen Gesellschaft in Wien, ab 1915 engagiert sie sich in der internationalen Frauenfriedensbewegung, 1921 wird sie Vizepräsidentin der neu gegründeten österreichischen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit.

In Fokussierung auf die Frage des Frauenwahlrechts hält sie dieses Recht um 1900 noch für eine Utopie, kämpft aber später für dieses Recht und freut sich über das 1919 Erreichte, äußert auch Zweifel: „nur eine verschwindend kleine Gruppe von Frauen hatte um dieses Wahlrecht gekämpft. Sie zweifelt daran, dass die Mehrheit mit den Anliegen der Frauenbewegung mithalten möchte und nicht lieber an der Norm festhalten möge … sie fürchtet die Lähmung durch eine konservative Haltung“ (S. 417). Gut, dass Mayreders Essays in einer neuen, übrigens in einer sehr schönen Ausgabe, vorliegen.

Die Frauen in der Schweiz erhalten erst am 7. Februar 1971 das eidgenössische Stimmund Wahlrecht.

 

Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914-1971.Zürich: Chronos Verl., 2007. 360 S. ISBN 978-3-0340-0857-0 € 52.00

Für den Zeitraum von 1914 bis 1971 fehlt bisher eine verbandsübergreifende Darstellung der Frauenbewegung in der Schweiz. Beatrix Mesmer schildert in ihrer Veröffentlichung detailliert den politischen Lernprozess, „den die verschiedenen Frauenorganisationen bis zur Einführung des Frauenstimmrechts auf eidgenössischer Ebene“ (S. 6) durchlaufen. Da die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert durch zahlreiche Veröffentlichungen gut abgedeckt ist, setzt die Autorin erst mit dem Jahr 1914 ein. In 13 Kapiteln analysiert sie vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse die verschiedenen Stationen der Geschichte der Frauenverbände und ihre Erfolge und Misserfolge. Dazu wertet sie eine Fülle von Verbandsgeschichten, Einzelstudien und Lizentiatsarbeiten und unveröffentlichten Quellen aus, leider fehlen Abbildungen.

Ihr Fazit: Der Erste Weltkrieg und die Zwanziger Jahre sind eine Experimentierphase „für die Erprobung von geeigneten Strategien zur Legimitierung weiblicher Partizipationsansprüche“ (S. 5), mit der Wirtschaftskrise der Dreißiger Jahre wird das politische Klima für die Frauenbewegung rauer, der Zweite Weltkrieg bedeutet ein Zurück auf die Ausgangspositionen Anfang des Jahrhunderts. So dauert es fast sechs Jahrzehnte bis zur staatsrechtlichen Gleichstellung, 1971 gestehen die Männer den Frauen das Wahlrecht zu, die faktische Gleichberechtigung ist noch in ferner Sicht. Eine gewinnbringende Veröffentlichung. 2011 erhält die Historikerin Beatrix Mesmer, eine der ersten Professorinnen an der Universität Bern, zusammen mit der Frauenrechtlerin und Ehrendoktorin der Universität Bern, Marthe Gosteli, der dieses Buch gewidmet ist, den Menschenrechtspreis der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Am 24.9.2015 stirbt sie im Alter von 84 Jahren.

 

 

Brigitte Ruckstuhl, Elisabeth Ryter: Beraten. Bewegen. Bewirken. Zür cher Frauenzentrale 1914-2014. Zürich: Chronos Verl., 2014. 255 S. ISBN 978-3-0340-1232-4 € 38.00

Über die Zürcher Frauenzentrale finden sich zahlreiche Informationen in der Veröffentlichung von Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914-1971. Sieben Jahre nach Mesmer erscheint nun eine großartige, dem 100jährigen Jubiläum angemessen abgefasste und gestaltete, reich bebilderte Dokumentation.

Am 3. August 1914 appelliert der Bund Schweizerischer Frauenverbände an die Frauenorganisationen, sich lokal zusammenzuschließen und sich aktiv an der Bewältigung der Kriegsfolgen zu beteiligen. In Zürich treffen sich 50 Vertreterinnen verschiedener bürgerlicher Frauengruppen und gründen eine Zentralstelle Frauenhilfe, die sich 1916 in Zürcher Frauenzentrale umbenennt. Nach dem Ersten Weltkrieg positionieren sich die Frauenrechtlerinnen politisch und kämpfen u.a. für den Ausbau der Berufsberatung (ab 1919), gründen 1920 die Soziale Frauenschule Zürich und 1925 eine Genossenschaft zur Erstellung von Wohnungen für allein stehende Frauen, errichten 1932 eine Fürsorgestelle für schwangere Frauen, leisten mit Ausbruch des Bürgerkriegs in Spanien Flüchtlingshilfe und kämpfen immer mehr und immer wieder für das Frauenstimmrecht: Am 15. September 1970 erhalten die Züricherinnen das kantonale und am 7. Februar 1971 das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht. Es ist ein Teil ihres Kampfes gegen die Entrechtung der Frauen und für ihre Menschenwürde. In den letzten Jahren liegt der Schwerpunkt in der Laufbahnberatung und in einem Mentoring-Programm für den politischen Nachwuchs. „Das Verhältnis zu den linken Frauen war lange Zeit zwiespältig … Das Engagement der Zürcher Frauenzentrale bewegte sich … klar innerhalb der bürgerlichen Normen.“ (S. 13) Diese Geschichte der Zürcher Frauenzentrale gibt einen Einblick in die Struktur und den Inhalt der bürgerlichen Frauenbewegung in der Schweiz.

 

Fabienne Amlinger: Im Vorzimmer der Macht? Die Frauenorganisationen der SPS, FDP und CVP. 1971-1995. Zürich: Chronos Verl., 2017. 409 S. ISBN 978-3-0340-1380-2 € 58.00

In ihrer Dissertation begibt sich die Historikerin Fabienne Amlinger auf ein bisher unerforschtes Gebiet der Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung. Sie geht der Frage nach, ob Frauen seit 1971 vermehrt politischen Parteien beitreten und von diesen als politisch Handelnde anerkannt werden. Sie untersucht dazu die Geschichte der Frauenorganisationen der Sozialdemokratischen der Schweiz (SPS), der Freisinning-Demokratischen Partei (FDP) und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (CVP). Es ist eine differenzierte und aufschlussreiche Studie zur schweizerischen Parteiengeschichte nun auch aus der Sicht der Frauen.

Ihr methodisches Vorgehen: „Kombination historisch-hermeneutischer sowie diskursanalytischer Methoden“ mit Rückgriff auf „Oral-History-Interviews“. (S. 33)

Ihr Ziel: Die Darstellung der unterschiedlichen Positionierung der Frauenorganisationen und ihrer unterschiedlichen Strategien und Ergebnisse beim Zugang zu den Machtpositionen in den betreffenden Parteien.

Ihr Fazit: Der Euphorie 1971 folgt die Ernüchterung, die Männer in den Parteien wollen ihre Macht nicht teilen. Die Frauen bringen neue Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein und erstreiten auch einige Ämter. Die Diskussionen sind gekennzeichnet von geringen Erfolgen und vielen Widerständen und Verweigerungen: Frauen werden von Wahllisten gestrichen, ihnen wird die Wahl in verantwortliche Positionen verweigert. „Die Frauenorganisationen feierten Erfolge, und zugleich scheiterten sie immer wieder.“ (S. 368) „Die Frauen sind in dieser Zeit vom Vorfeld ins Vorzimmer der Macht eingezogen. Und störten dort zunehmend die Spielregeln der männlichen Dominanz.“ (S. 369)

Ihre Tendenzen für das 21. Jahrhundert: Fehlanzeige. M.E. gibt es Errungenschaften auf juristischer Ebene wie den Gleichstellungsartikel in der Verfassung und ein neues Eherecht, andererseits gibt es weiterhin Lohnungleichheit, Sexismus und keine Vertretung in den Schaltzentralen der Macht. Diese Publikation ist ein Vorbild für die Frauen- und Geschlechtergeschichte der politischen Parteien nicht nur in der Schweiz. Die Autorin erhält 2107 den erstmals vergebenen „Brigitte-Schnegg-Preis für Geschlechterforschung“. ˜

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bi­blio­­theks­direktor an der Berg­aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der ­Deutschen Staatsbibliothek Berlin.

dieter.schmidmaier@schmidma.com

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